Gastbeitrag Prof. Stefan Kooths
Konjunkturperspektiven: Kleines Plus, große Risiken
Zum Jahreswechsel hellen sich die Perspektiven für die deutsche Wirtschaft leicht auf. Das macht der Konjunkturchef des Kiel Instituts für Weltwirtschaft, Prof. Stefan Kooths, im Gastbeitrag deutlich. Dabei komme dem unerwartet robusten Konsum eine Schlüsselrolle zu. Für eine Entwarnung sei es aber dennoch noch zu früh, mahnt der Ökonom.
Die Aussichten für die deutsche Konjunktur haben sich seit der Zuspitzung der Energiekrise im Herbst leicht aufgehellt. Zwar dürfte die Wirtschaftsleistung im Winterhalbjahr leicht rückläufig sein, insgesamt zeichnet sich nun aber für das kommende Jahr eine etwas festere Entwicklung ab.
Möglich macht das eine weniger belastete Konsumkonjunktur infolge vergleichsweise weniger stark steigender Energiepreise. Neben rückläufigen Notierungen an den Großhandelsmärkten schlägt hierbei vor allem die massive Subventionierung des Gas- und Stromverbrauchs zu Buche. Dies wirkt dem sonst zu erwartenden weitaus stärkeren Einbruch der real verfügbaren Einkommen im kommenden Jahr entgegen.
Stimme der Ökonomen
Klimawandel, Lieferengpässe, Corona-Pandemie: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliardenschweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?
In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen ab sofort Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.
Preisauftrieb schmälert die Kaufkraft der Konsumenten
Gleichwohl schmälert der Preisauftrieb insgesamt weiterhin deutlich die Kaufkraft der Konsumenten. Nach drei Jahren rückläufiger Realeinkommen dürften diese erst im Jahr 2024 wieder merklich zunehmen. Die nichtenergieintensive Industrieproduktion wird noch bis weit ins kommende Jahr von hohen Auftragspolstern und nachlassenden Lieferkettenproblemen gestützt werden. Insgesamt resultiert daraus gegenüber der Situation im Herbst ein etwas günstigerer Konjunkturverlauf.
So haben wir am Kiel Institut für Weltwirtschaft die erwartete Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts für die Jahre 2022 und 2023 um 0,5 bzw. 1,0 Prozentpunkte auf nunmehr 1,9 Prozent (2022) und 0,3 Prozent (2023) heraufgesetzt. Gleichwohl belastet die Energiekrise die deutsche Wirtschaft weiterhin schwer.
Gemessen an unserer Winterprognose aus dem Vorjahr, die den sonst möglichen Konjunkturverlauf abbildet, reduziert sich die Wirtschaftsleistung allein in den Jahren 2022 und 2023 um 180 Milliarden Euro und liegt am Ende dieses Zeitraums immer noch 4 Prozent unter dem Referenzszenario. Für das Jahr 2024 rechnen wir mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 1,3 Prozent und damit einer insgesamt verhaltenen Dynamik, dem auch ein niedrigerer Potenzialpfad zugrunde liegt, der auch durch die energieseitigen Belastungsfaktoren geschmälert wird.
Geringere Inflationsraten mit hohen Staatsdefiziten erkauft
Hinter den sogenannten Strom- und Gaspreisbremsen verbergen sich massiv steigende Subventionen. Die damit verbundenen Mehrausgaben belasten die öffentlichen Haushalte im kommenden Jahr mit 87 Milliarden Euro und im übernächsten Jahr mit 17 Milliarden Euro. Die Finanzierung erfolgt im Wesentlichen über den „Wirtschaftlichen Abwehrschirm gegen die Folgen des russischen Angriffskrieges“, mit dem sich die Bundesregierung unter Rückgriff auf die noch gültige Ausnahmeklausel der Schuldenbremse zusätzliche Kreditermächtigungen von bis zu 200 Milliarden Euro für die kommenden Jahre eingeräumt hat.
Zwar sind die Preisbremsen als verbrauchsunabhängige Zahlungen ausgestaltet, in der amtlichen Statistik werden sie jedoch preisdämpfend verbucht. Für sich genommen drücken die Gas- und Stromsubventionen die Inflationsrate im kommenden Jahr um 2,4 Prozentpunkte, der Wegfall ab April 2024 macht sich dann im selben Jahr um 1,1 Prozentpunkte inflationssteigernd geltend. Insgesamt dürften die Teuerungsraten bei 8,0 Prozent (2022), 5,4 Prozent (2023) und 2,2 Prozent (2024) liegen. Die Defizite im Staatshaushalt schwellen in der Folge auf 160 Milliarden Euro (2023) und 90 Milliarden Euro (2024) an, nach 55 Milliarden Euro im laufenden Jahr. Die Finanzpolitik schlägt damit einen stark expansiven Kurs ein.
Unverändert erhebliche Risiken in der Energieversorgung
Die Preise für Erdgas und Strom schwanken an den Spot- und Terminmärkten weiterhin erheblich. Dies ist hauptsächlich Ausdruck einer unsicheren Versorgungslage, insbesondere bei Erdgas. Als Ersatz für die weggefallenen russischen Lieferungen kommt vor allem der Einkauf von Flüssiggas (LNG) in Frage. Bei einem kurzfristig kaum reagiblen Angebot kann die zusätzliche Nachfrage aus Europa im Wesentlichen nur dadurch bedient werden, dass Nachfrager in der übrigen Welt durch höhere Preisgebote verdrängt werden.
Dies hat den Erdgaspreis im August zwischenzeitlich in Höhen von über 300 Euro je Megawattstunde (MWh) getrieben. Maßgeblich hierfür waren nicht zuletzt die im staatlichen Auftrag erfolgten Käufe aus Deutschland zum Auffüllen der Gasspeicher. Hierdurch ist zwar eine Gasmangellage im laufenden Winterhalbjahr deutlich unwahrscheinlicher geworden, allerdings stellt sich die Frage der Versorgungssicherheit für die kalte Jahreszeit 2023/2024 erneut.
Zu welchen Preisen LNG zukünftig auf dem Weltmarkt verfügbar sein wird, hängt nicht zuletzt von der wirtschaftlichen Entwicklung in Asien – speziell in China – ab. Kommt es dort zu einer deutlichen Erholung, steigt auch die Gasnachfrage und mit ihr der Weltmarktpreis für LNG. Insgesamt muss daher weiterhin mit der Möglichkeit starker Preisschübe gerechnet werden. Diese würden nach dem Auslaufen der Gaspreisbremse im April 2024 auch wieder die effektiven Endverbraucherpreise bestimmen.
Energieseitig ist ferner relevant, dass Mitte April 2023 die Kernkraftwerke in Deutschland nach derzeitiger Beschlusslage abgeschaltet werden, wodurch weitere Stromerzeugungskapazität vom Netz geht. Inwieweit hierdurch die Versorgungslage und Preisbildung auf dem deutschen Strommarkt beeinflusst wird, hängt auch davon ab, wie schnell die derzeit durch Wartungsarbeiten beeinträchtigten französischen Meiler wieder produzieren. Insgesamt bestehen damit weiterhin erhebliche Unsicherheiten auf den Energiemärkten und damit auch für die Konjunktur in Deutschland.
Energiekrise und Zinswende erhöhen Insolvenzrisiken
Bislang erscheint der Unternehmenssektor robust gegenüber deutlich höheren Energie- und Finanzierungskosten. Weder bei den Insolvenzen noch bei den Gewerbeabmeldungen zeigt sich bis zum aktuellen Rand ein auffälliger Befund. Allerdings steigen die Risiken, je länger diese Belastungen andauern, weil in Unternehmen, die die höheren Kosten nicht an ihre Kunden oder andere Lieferanten überwälzen können, das Eigenkapital sukzessive erodiert.
Unklar ist insbesondere, inwieweit die lange Niedrigzinsphase, die in der modernen Wirtschaftsgeschichte ohne Beispiel ist, Zombie-Unternehmen am Markt gehalten hat, deren Geschäftsmodell sich bei einer Normalisierung der Geldpolitik als obsolet erweist. Böse Überraschungen sind hier nicht ausgeschlossen.
Neue energiepolitische Strategie dringend notwendig
Mit dem Stopp der pipelinegebundenen Erdgaslieferungen aus Russland ist der wichtigste Brückenenergieträger für die Energiewende in Deutschland weggebrochen. Bislang steht hierfür kein Ersatz bereit. Die Bundesregierung hat zwar den Aufbau von Terminalkapazitäten vorangetrieben, um Flüssiggas direkt in Deutschland anlanden zu können und so die europäischen Importkapazitäten zu erweitern; dies ist aber nur eine notwendige Bedingung. Denn es wäre wenig gewonnen, würden LNG-Tanker, die bislang andere europäische Häfen anlaufen, nur nach Deutschland umgelenkt.
Hinzu kommen müssen Anreize, die LNG-Produktion in Übersee deutlich auszuweiten und die entsprechende Transportkapazität bereitzustellen. Dies geschieht üblicherweise in Form von langlaufenden Lieferverträgen. Diese unterliegen allerdings dem politischen Risiko, dass die russischen Lieferungen wieder aufgenommen werden.
Die Wirtschaftspolitik sollte dieses Investitionsrisiko – idealerweise EU-weit koordiniert – einhegen, etwa durch einen Zoll auf russische Gaslieferungen, der den Preisvorteil gegenüber Flüssiggas ausgleicht. Ohne solche Anreize für eine Produktionsausweitung in Übersee blieben für die LNG-Versorgung auch mittelfristig nur Käufe am Spotmarkt, wo Nachfrager aus anderen Weltregionen über den Preis verdrängt werden müssten. Damit würde die Gasversorgung auf Dauer noch teurer bleiben, als sie durch den Umstieg auf LNG ohnehin wird.
Alternativ bzw. ergänzend könnte die deutsche Energiepolitik das Erschließen heimischer Gasvorkommen über Fracking ins Auge fassen. Ferner stehen in Deutschland sechs betriebsfähige Kernkraftwerke, mit denen sich ein Teil des wachsenden Strombedarfs weitgehend CO2-neutral decken ließe. Ein beschleunigter Ausbau der Erneuerbaren Energien allein ist keine Lösung, solange Speicherkapazitäten zur Abdeckung von Dunkelflauten nicht ausreichend zur Verfügung stehen.
Insgesamt würde ein angebotsseitiger Ansatz der Energiepolitik das Problem der hohen Energiepreise sachgerecht adressieren und die Erwartungen über das zukünftige Energiepreisniveau – insbesondere als Grundlage für Investitionsentscheidungen – in Deutschland stabilisieren helfen. Erst dann lässt sich unternehmerisch abschätzen, welche Industrien sich am hiesigen Standort weiterhin wettbewerbsfähig betreiben lassen und welche ins Ausland abwandern sollten. Denn die industrielle Basis eines Wirtschaftsraums muss sich selbst tragen und darf nicht – schon gar nicht dauerhaft – auf subventionierte Energieträger angewiesen sein.
Energiehilfen mit der Gießkanne schüren Inflationsdruck
Die Strom- und Gaspreisbremsen sind so ausgestaltet, dass sie die amtlich ausgewiesenen Energiepreise und damit die Inflationsrate insgesamt für sich genommen spürbar senken. Ökonomisch stellen sie eine Kaufkraftinjektion in erheblichem Ausmaß für den Privatsektor dar, dem eine entsprechend höhere Verschuldung des Staates gegenübersteht. So belaufen sich die Mittel, die im kommenden Jahr über den Abwehrschirm an die Strom- und Gaskunden ausgereicht werden, auf rund 2 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Mit diesen Mitteln können die privaten Akteure zusätzlich disponieren. Werden sie an den Gütermärkten nachfragewirksam, erhöhen sie auch den Preisauftrieb. Dieser Effekt wäre in einer starken Unterauslastung weniger bedeutsam. Allerdings weisen Umfragen zur Kapazitätsauslastung darauf hin, dass die deutsche Wirtschaft in weiten Teilen immer noch überausgelastet ist. Zudem ist der Personalmangel in vielen Branchen weiterhin ausgesprochen hoch.
Auch das mit statistischen Verfahren geschätzte gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzial zeigt derzeit nicht mehr allzu viel Luft nach oben an, wobei die Schätzung nach fast dreijähriger Krisenphase weniger belastbar ist als bei gewöhnlichem Konjunkturverlauf. Hinzu kommt, dass der heimische Gasverbrauch im Prognosezeitraum insgesamt um rund 20 Prozent eingeschränkt werden muss, um eine Gasmangellage bei normaler Witterung zu vermeiden. Damit fällt ein Teil der davon betroffenen Produktionskapazität zumindest temporär aus.
Insgesamt läuft der massive fiskalische Impuls somit Gefahr, den Preisauftrieb auch außerhalb der energieintensiven Bereiche anzufachen. Dieses Risiko ließe sich deutlich reduzieren, würden die staatlichen Hilfen auf diejenigen privaten Haushalte konzentriert, die andernfalls in Existenznot geraten.
Dies könnte etwa dadurch geschehen, dass die Hilfen unter der Maßgabe ausgereicht werden, dass sie nachgelagert mit der nächsten Einkommensteuererklärung einkommensabhängig drastisch abgeschmolzen werden – nicht wie in der bisher angestrebten Lösung mit dem Einkommensteuersatz, sondern einer Entzugsrate, die bis zur Höhe des mittleren Einkommens die ursprünglichen Hilfen wieder vollständig kassiert. Das ist wesentlich stimmiger, als Hilfen zunächst mit der Gießkanne an Arm und Reich zu verteilen, um dann zum Ausgleich weiter an der Steuerschraube zu drehen.
Marktmechanismen nutzen, nicht schwächen
Unternehmenshilfen sollten noch restriktiver gehandhabt werden und – wenn überhaupt – eher in Form von Kreditgarantien ausgestaltet sein. Denn marktfähige Unternehmen können höhere Energiekosten an ihre Kunden weitergeben oder auf ihren übrigen Beschaffungsmärkten rückwälzen. In dieser Fähigkeit zeigt sich, ob Geschäftsmodelle gesamtwirtschaftlich wichtig genug sind, um auch bei eingeschränkter Energieversorgung fortgeführt zu werden.
Auf diese Weise identifiziert der Marktmechanismus, an welcher Stelle derzeit insbesondere auf den Einsatz von Erdgas am ehesten verzichtet werden kann, wobei das dezentral verteilte Wissen maximal mobilisiert wird. Damit wird nicht automatisch alles gut. Auch die Effizienz des Marktsystems kann die drastische Energieverknappung nicht aus der Welt schaffen. Sie bleibt damit weiterhin schmerzhaft. Aber die Schmerzen – gemessen an entgangener Wertschöpfung – sind kleiner als bei jedem anderen Zuteilungsverfahren. Ein solcher marktbasierter Ansatz gelingt umso besser, je stärker er mit einer angebotsorientierten Energiepolitik verbunden wird.
Auch wenn die meisten Wirtschaftsforscher jüngst ihre Konjunkturprognosen für das kommende Jahr etwas angehoben haben, so bestehen weiterhin massive Risiken für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Kein Grund also zur Entwarnung. Und noch weniger Grund, sich zurückzulehnen – am allerwenigsten für die Wirtschaftspolitik. Denn der bisherige Kurs, der Energiekrise im Wesentlichen mit viel staatlichem Geld zu begegnen, ist weder markt- noch stabilitätsgerecht.
Zur Person: Prof. Stefan Kooths ist Vizepräsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft und Direktor des dortigen Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum. Er lehrt Volkswirtschaftslehre an der BSP Business and Law School in Berlin/Hamburg und ist Vorsitzender der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft.