Immer mehr Vorschriften: Wider das Gulliver-Syndrom

Die deutsche Wirtschaft leidet immer stärker unter der staatlichen Regelungswut. Inzwischen erinnert das Geflecht aus Regeln, Vorschriften und Dokumentationsvorgaben an den Riesen Gulliver, der von zahllosen Schnüren am Boden gefesselt wurde, warnt der Konjunkturchef des Kiel Instituts für Weltwirtschaft, Prof. Stefan Kooths, und fordert ein rasches Umsteuern – trotz hoher Hürden.
Kiel – Industriepolitischer Interventionismus ist wieder auf dem Vormarsch. Dieser Neodirigismus segelt nun unter der Flagge der „ökonomischen Souveränität“, wonach der Staat die wirtschaftliche Aktivität im Inland unabhängiger vom Geschehen in der übrigen Welt zu machen habe. Solche Ambitionen sind insbesondere auf EU-Ebene zu erkennen. Dabei verweben sich protektionistische mit industriepolitischen Ambitionen, die längst vor dem derzeitigen Lieferkettenstress bestanden – es ist also auch viel alter Wein in neuen Schläuchen dabei.
Diversifizierung statt Abschottung
Der Rückzug hinter die eigenen Landesgrenzen verkennt zweierlei: Zum einen bedeutet Unabhängigkeit von einem einzelnen Land immer auch Unabhängigkeit vom eigenen Land. So wären die Folgen der Pandemie ohne die Einbindung in die Weltwirtschaft weitaus schwieriger zu bewältigen gewesen. Diversifizierung und nicht Abschottung lautet daher das Gebot.
Zum anderen muss man Unternehmen nicht zum Jagen tragen. Sie wissen selbst am besten, wie sie ihre Lieferbeziehungen diversifizieren. Hierbei gehen sie typischerweise besonnener vor, als es derzeit die politische Debatte zeigt. Diese wird dominiert durch den akuten Kriseneindruck und übersieht, dass es bei seltenen Ereignissen (wie einer Pandemie oder kriegsbedingten Disruptionen) nicht sinnvoll ist, alle Risiken auszuschalten.
So wäre es abwegig, dauerhaft Produktionskapazitäten für Gesichtsmasken aufrechtzuerhalten, wenn sie nur alle 30 Jahre massenhaft benötigt werden (für die Pandemievorsorge ist daher Lagerhaltung die effizientere Strategie). Ähnliches gilt für andere seltene Ereignisse, die das wirtschaftliche Geschehen stören. Demgegenüber kann eine Vollkasko-Mentalität auf die Dauer sehr kostspielig werden, weil sie sich vieler Produktivitätschancen begibt.
Stimme der Ökonomen
Klimawandel, Lieferengpässe, Corona-Pandemie: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?
In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen ab sofort Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.
Wirtschaftspolitik unterliegt häufig grundlegendem Missverständnis
Mit Blick auf Technologielenkung zeugen überzogenes Sicherheits- und Planungsdenken in der Wirtschaftspolitik von einem groben Missverständnis marktwirtschaftlicher Wettbewerbsprozesse. Diese sind ihrer Natur nach ergebnisoffen. Dies gilt insbesondere für Produkt- und Verfahrensinnovationen. Die Ideen von morgen kann heute niemand kennen.
Hier maßt sich der Staat zu oft ein Wissen an, das weder Behörden noch sonst jemand haben kann und beschneidet so in massiver Weise die Technologieoffenheit (etwa mit Blick auf die zukünftige Energieversorgung). In der Folge werden kostbare Optionen unnötig verspielt.
Jüngstes Beispiel: Ein Verbot für Verbrennungsmotoren für Pkw. Auch die Öffnungsklausel für E-Fuels zeugt nicht von Technologieoffenheit, sondern von einer verengten End-of-pipe-Sicht. So würde der Emissionsneutralität auch entsprochen, wenn herkömmliche Verbrenner weiterbetrieben und die dabei freigesetzten CO2-Mengen anderswo der Atmosphäre entnommen würden (Negative Emissionstechnologien).
Ob das wirtschaftlich möglich sein wird, hängt vom technischen Fortschritt ab, dessen Ergebnisse heute noch nicht bekannt sein können. Eine Politik, die immer nur auf garantierte Ergebnisse abzielt, entzieht damit dem Wohlstandmotor Nummer 1 die Basis, indem sie technischen Fortschritt nur in engen Bahnen zulässt.
Geflecht von Einzelregelungen hemmt Innovationen und Wachstum
Die Krux dabei: Es sind nicht so sehr einzelne Regulierungen, die der Innovations- und Wachstumskraft der Wirtschaft Fesseln anlegen. Es ist vielmehr das Geflecht von vielen Einzelregelungen, die über Vorschriften und Dokumentationspflichten kostbare Ressourcen binden (Beispiel Mindestlohn: Auch Unternehmen, die Marktlöhne weit oberhalb des Mindestlohns bezahlen, müssen dies nun über Zeiterfassung nachweisen).
Je interventionistischer die Wirtschaftspolitik, desto stärker leidet die Wirtschaft am Gulliver-Syndrom. Ähnlich wie Gulliver nicht von einer Schnur am Boden gehalten wurde, ist es das Regulierungsgeflecht, das den Unternehmen das Leben schwer macht. Umso schwieriger wird politökonomisch das Umsteuern, weil nicht eine einzelne Regelung für den Großschaden verantwortlich gemacht werden kann.
EU-Taxonomie-Verordnung: Neues Bürokratiemonster ohne wirtschaftlichen Nutzen
Ein neues Regulierungsfeld ist jedoch so weitgreifend, dass es prominent benannt werden muss: Mit der EU-Taxonomie-Verordnung droht ein gewaltiges neues Bürokratiemonster ohne jedweden gesamtwirtschaftlichen Nutzen. Es ist schlicht unmöglich, einem einzelnen Projekt einen Nachhaltigkeitsbeitrag zu attestieren. Ein solches Ansinnen zeugt abermals von einem krassen Missverständnis marktwirtschaftlicher Mechanismen und setzt mit der Beeinflussung der Finanzierungsbedingungen an der falschen Stelle an.
Im Ergebnis entsteht so nur ein sehr lukratives Geschäftsfeld für die Berater- und Finanzindustrie, die dafür auch mächtig die Werbetrommel rühren. Nicht nur wird damit den Unternehmen das Leben noch schwerer gemacht, es werden dort zudem hochqualifizierte Arbeitskräfte gebunden, denen keinerlei Wertschöpfung gegenübersteht, denn es entstehen im großen Stil nur Buzzword-Jobs. Die sich ohnehin abschwächende Wachstumsdynamik bekommt damit eine weitere Produktivitätsbremse verpasst. Das Beste wäre daher, das gesamte Vorhaben ersatzlos zu streichen. Den Nachhaltigkeitszielen würde es keinen Abbruch tun, weil es hierfür bessere Instrumente gibt, die dem Wirtschaftswachstum nicht zusätzlich schaden.
Staatlicher Dirigismus provoziert implizite Entschädigungsansprüche
Auch Rettungsprogramme für systemrelevante Unternehmen sind ein Fremdkörper in einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Mit der Uniper-Rettung hat dieser Prozess nun auch in der Energiebranche eingesetzt. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Ausrichtung der Unternehmen nur auf die Anreize reagiert hat, die jahrzehntelang von der Politik gesetzt worden waren. Ähnliches ließe sich über die Finanzkrise sagen, der eine viel zu expansive Geldpolitik vorausging.
Es zeigt sich immer wieder: Wenn Gewinnchancen und Verlustrisiken (Haftungsprinzip) staatlicherseits außer Kraft gesetzt werden, wird es am Ende für den Steuerzahler teuer. Dies liegt daran, dass durch den staatlichen Dirigismus implizite Entschädigungsansprüche gegenüber der Politik entstehen.
So wird es auch bei der Energiewende kommen, und zwar umso stärker, je mehr Technologievorgaben seitens der Politik gemacht werden. Sollte sich etwa herausstellen, dass die Zukunft doch in anderen Energieformen liegt (zum Beispiel beim Betrieb von Kfz), wird die Automobilindustrie geltend machen, dass sie von der Politik mit Nachdruck auf Batteriefahrzeuge festgelegt wurde.
Einen „Unternehmerstaat“, der über technologisches Vorsprungswissen verfügt, gibt es nicht. Schon der Begriff ist ökonomischer Unsinn. Er vermengt Sphären, die klar voneinander getrennt werden müssen. Der Staat ist die einzige Instanz, die legitimerweise Zwangsinstrumente einsetzen darf. Diese müssen jeweils gut begründet werden. Unternehmen agieren in einem Wettbewerbsumfeld, in dem sie diejenigen Güter hervorbringen sollten, die die Konsumenten am dringlichsten wünschen.
Industrie-Politik: Erfolgreiche Projekte sind eine Illusion
Daher ist es auch Nonsens, wenn darauf verwiesen wird, dass bestimmte industriepolitische Projekte „erfolgreich“ gewesen seien. „Erfolgreich“ hieße in ökonomischer Logik, dass die privaten Akteure mit den dort eingesetzten Mitteln (= Steuergeldern) nichts Besseres anzufangen gewusst hätten. Dieser Nachweis wird aber nie erbracht, sondern es wird in dirigistischer Manier Technokratensouveränität über Konsumentensouveränität gestellt.
Krasses Beispiel: Die UdSSR war der erste Staat, der einen Menschen in den Weltraum geschossen hat. Gleichzeitig herrschte in demselben Staat überall Mangel an Konsumgütern. Hätte man die Konsumenten gefragt, so hätten sie sicherlich dafür votiert, erst die Regale auf der Erde zu füllen, bevor man sich in den Weltraum aufmacht. Marktwirtschaftliche Systeme sind daher aus guten Gründen nicht darauf gepolt, staatlich vorgegebene Hochtechnologiegüter hervorzubringen, sondern diejenigen Güter, die den Konsumenten am wichtigsten sind. Dass das eine auf Kosten des anderen gehen muss, verkennen Industriepolitiker leider immer wieder.
Für staatliche Eingriffe in die Güterbereitstellung gibt es ein klares ökonomisches Kriterium: Nur dann, wenn die Nutzer nicht mit privatrechtlichen Mitteln (zu vertretbaren Transaktionskosten) zur Kasse gebeten werden können, ist der Staat gefragt, um das Trittbrettfahrerproblem mit öffentlich-rechtlichen Zwangsmitteln zu lösen. Das prominenteste Beispiel hierfür ist die äußere Sicherheit (Landesverteidigung). Bezeichnenderweise hat gerade auf diesem Feld der Staat jahrzehntelang seine Hausaufgaben nicht gemacht. Der Nachweis einer entsprechenden kollektiven Zahlungsbereitschaft im Rahmen von Kosten-Nutzen-Analysen ist alles andere als trivial und sollte daher restriktiv gehandhabt werden.
Steuerfinanzierung: Hand in der Hosentasche des Nachbarn
Denn genau darin liegt die Überlegenheit von Marktsystemen: Märkte können mit der subjektiven Bewertung von Gütern durch Menschen sachgerecht umgehen, weil sie diejenigen, die ein hohes Bedürfnis geltend machen, unmittelbar an den Kosten der Bereitstellung beteiligen. Bei Steuerfinanzierung (kein Nexus zwischen Zahlern und Nutzern) geschieht genau das nicht, sondern es entsteht vielmehr die Illusion, auf Kosten Dritter leben zu können (entsprechend hoch sind die Lobbyinteressen auf der Ausgabenseite des Staatshaushalts). Im Ergebnis hat dann jeder eine Hand in der Hosentasche des Nachbarn. Das kann man an sich schon für unanständig halten. Es ist auf jeden Fall eine sehr unproduktive Arbeitshaltung. Auch das ist dann eine Facette des Gulliver-Syndroms.
Zur Person: Prof. Stefan Kooths ist Vizepräsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft und Direktor des dortigen Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum. Er lehrt Volkswirtschaftslehre an der BSP Business and Law School in Berlin/Hamburg und ist Vorsitzender der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft.