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Finden Putin und die Nato den Ukraine-Ausweg? Experten erklären Krisen-Diplomatie - und die Friedensperspektive

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Von: Florian Naumann

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Der russische Präsident Wladimir Putin (l) und US-Präsident Joe Biden bei ihrem Treffen in der „Villa la Grange“.
Ein Treffen zwischen Biden und Putin ist „derzeit sicher nicht geplant“. (Archivbild) © Denis Balibouse/dpa

Gibt es einen friedlichen Ausweg aus der Ukraine-Krise? Anne Holper und Lars Kirchhoff, Friedensverhandlungs-Experten, sagen „Im Prinzip: Ja“ - und erklären Merkur.de die komplexe Lage.

Frankfurt (Oder)/München - Die Politiker des Westens sind sich einig: Selten in diesem Jahrtausend schien ein Krieg in Europa so nah wie dieser Tage. Die Drohkulisse Russlands mit wohl weit über 100.000 Soldaten im ukrainischen Grenzraum wirkt allzu real. Abseits der Warnungen und der Meldungen über Zusammenstöße und Truppenbewegungen bleibt da nur eine große Frage: Wie kommen Russland, die Nato und nicht zuletzt die Ukraine ohne weitere militärische Eskalation und Blutvergießen aus der hoch angespannten Lage heraus?

Was hinter den verschlossenen Türen der Regierungschefs und Diplomaten abläuft, bleibt oftmals im Dunkeln. Erhellen können das Geschehen ein wenig Anne Holper und Lars Kirchhoff: Die beiden Wissenschaftler sind Experten auf dem Gebiet der Friedensverhandlungen und leiten das „Center for Peace Mediation“ an der Europa-Uni Viadrina in Frankfurt (Oder). Das Zentrum berät unter anderem das Auswärtige Amt* zu vermittlungsmethodischen Fragen und ist auch im Ukraine-Konflikt seit 2014 in verschiedenen Rollen aktiv.

Zu (er)klären gibt es einiges: Worum geht es in der Krise wirklich, hätte die Nato den Konflikt vermeiden können? Was bezweckt Kanzler Olaf Scholz*, wenn er konkrete Sanktionen offenlässt, wird die Ukraine an wichtigen Punkten übergangen? Im Interview mit Merkur.de geben Holper und Kirchhoff Einblick in die Mechanismen der Friedensverhandlungen. Die Experten benennen auch konkret einen möglichen Ausweg aus dem Ukraine-Konflikt*. Das erfordere jedoch eine Hinwendung zu den hinter den Konflikthandlungen stehenden Interessen, mahnen sie - und eine auf diesen begründete langfristige Vision.

Russland-Ukraine-Krise: Lage nun „wie bei einem Schachspiel“

IPPEN.MEDIA: Wladimir Putin hat am Montagabend eine Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine als unabhängig in Aussicht gestellt - aber auch schwere Vorwürfe gegen die Ukraine erhoben. Wie groß ist der Rückschlag für eine Hoffnung auf eine friedliche Konfliktlösung?

Lars Kirchhoff: Putin bietet seiner Bevölkerung und Staaten wie China ein Narrativ an; eine Entsendung von „Friedenstruppen“ auf Basis offizieller Bitten der „unabhängigen Volksrepubliken“ um Militärhilfe. Diese taktische Verschleierung soll das russische Vorgehen nicht als Aggression erscheinen lassen. Das Vorgehen gleicht demjenigen aus dem Jahr 2008 mit Blick auf Abchasien und Südossetien, als Russland zwei abtrünnige Republiken von Georgien anerkannte. Wie bei einem Schachspiel hängt das weitere Geschehen nun jeweils vom nächsten Zug ab: In dem Moment, wo sich die Ukraine gegen die Errichtung russischer Militärstützpunkte in den selbst ernannten Volksrepubliken zur Wehr setzt, hätte Putin den entscheidenden Vorwand für eine Ausweitung der Militäroperation über die Ostgebiete hinaus. Eine weitere Argumentationsmöglichkeit wird über den Vorwurf von Massenverbrechen am „russischstämmigen“ Volk in der Ostukraine angelegt; sollte die Ukraine militärisch zurückhaltend reagieren, würden Militäroperationen aller Voraussicht nach über diesen angeblichen Legitimationsstrang erklärt. 

Zudem, und dieser extreme Schritt hat viele überrascht, stellt Putin die Staatlichkeit der Ukraine als solche in Frage. Diese dramatische Entführung der Wirklichkeit und Negation der Geschichte ist völkerrechtlich leicht zu entkräften und in strategischer Hinsicht vielleicht sogar unklug, weil es viele Akteure als offenen Affront gegen den Kern der internationalen Ordnung benennen werden. Aber die Intensität, mit der Putin diesen Punkt vorgetragen hat, macht ihn zu der vielleicht sogar aufschlussreichsten Dimension der aktuellen Entwicklung; der tiefe Blick in die geopolitische und geschichtliche Seele Putins erklärt vieles erst, passgenaue Reaktionen müssten auf diese Offenlegung seiner tatsächlichen Sicht der Dinge eingehen.

Der tiefe Blick in die geopolitische und geschichtliche Seele Putins erklärt vieles erst, passgenaue Reaktionen müssten auf diese Offenlegung seiner tatsächlichen Sicht der Dinge eingehen.

Lars Kirchhoff über Wladimir Putins Auftritt am Montagabend.

Hat sich Ihr Ausblick mit dem Montagabend verändert?

Kirchhoff: Durch die neuen Entwicklungen ist nun absehbar, dass der weitere Verlauf des Konflikts mit deutlich offenerer Gewalt als bisher einhergehen wird. Eine friedliche Lösung wird dadurch noch schwieriger: Gewalt, Tod, Sanktionen und die weitreichende Entwertung des Minsker Abkommens* machen diese nun zu einer hoch komplexen, langfristigen Aufgabe. Die kommende Phase wird von Eskalation und Härte geprägt sein.  

Anne Holper: Mittel- und langfristig sind zwei Szenarien denkbar, auch abhängig davon, wie sich die Ukraine und die westlichen Staaten nun verhalten: es könnte zu einem „heißen“ militärischen Konflikt ähnlich dem Krieg mit Georgien 2008 kommen; oder bzw. im Anschluss könnte dieser zu einem dauerhaften „kalten“ Konflikt, ähnlich wie in Transnistrien in der Republik Moldau „eingefroren“ werden. In letzterem Szenario könnte der russische Präsident mindestens sein Ziel erreicht sehen, einen Nato-Beitritt der Ukraine langfristig unmöglich zu machen. Angesichts der kollektiven Verteidigungsverpflichtung der Nato ist es für die Verbündeten da facto nicht möglich, ein neues Mitglied zu akzeptieren, das in einen anhaltenden militärischen Konflikt verwickelt ist. 

Experten deuten Russland-Ukraine-Krise: „Konnte aus russischer Perspektive durchaus als Bedrohung wahrgenommen werden“

Die Krise an der ukrainischen Grenze konnte bislang aber auch wie eine Verlagerung eines anderen, tieferliegenden Konflikts wirken: Eine russische Drohkulisse an der ukrainischen Grenze, um – so zumindest eine These – in Gespräche über eine allgemeine Sicherheitsarchitektur einzutreten. Sind solche Konstellationen in internationalen Konflikten üblich?

Holper: Internationale Konflikte sind meist von mehreren miteinander verbundenen Themen und Kontextfaktoren bestimmt - wie in einem Mobile kann sich der Fokus durch neue Entwicklungen verlagern. Zugleich bleibt aber auch oft aus taktischen Gründen unklar, was jeweils das Kernmotiv der Beteiligten ist und was als Vorwand oder Hebel dient. 

Kirchhoff: Im Fall der aktuellen Russland-Ukraine-Krise geht es sowohl um die offensichtliche Frage – den Grad der Autonomie der Ukraine mit Blick auf Territorium, Bündnisse und Nähe zur EU – als auch um einen Stellvertreterkonflikt, der sich lediglich an der Ukraine entzündet, aber weit über diese hinausgeht: wie soll die Sicherheitsarchitektur im eurasischen Raum konkret aussehen? 

Holper: ...und eine weitere Ebene darüber geht es um die Frage, ob und in welcher Weise Russland die Regeln der Weltgemeinschaft mitbestimmen darf: Ob, wie es die stellvertretende Direktorin des Berliner Zentrums für Internationale Friedenseinsätze, Astrid Irrgang, kürzlich formuliert hat, ein „Platz an den Tischen der Welt“ auf Augenhöhe mit den westlichen Staaten, vor allem den USA, denkbar ist. Oder ob man den, wie Ursula von der Leyen sagte, „unverhohlenen Versuch“ Moskaus, „die Regeln der Weltordnung neu zu schreiben“, ablehnen muss.

Diese Grundsatzfrage wurde seit Ende des Kalten Kriegs implizit verhandelt aber nicht gelöst, auch nicht unter dem Nenner der Sicherheitsarchitektur. Jetzt scheint Putin diese Anerkennung mit Gewalt erzwingen zu wollen. Aus russischer Perspektive kann das nachhaltige Nichteingehen der Nato auf russische Interessen – erst in Punkto Teilhabe, dann in Punkto Sicherheit – durchaus als Bedrohung wahrgenommen werden, auch ohne Ukraine-Beitritt in Sichtweite. Angesichts dessen stellt sich nun die Frage: Hätte man Russland nicht proaktiver einbinden können und kann man dies nicht auch jetzt noch tun, um nicht in das nun von Putin bestimmte militärische Spiel hineingezwungen zu werden? 

Russland-Ukraine-Krise: Deutsche Krisendiplomatie muss sich nun neu ausrichten

Und auf welchem Wege kann nun noch Deeskalation funktionieren - sind vor allem nicht-öffentliche diplomatische Kanäle gefragt? Und wo wir dabei sind: Wie groß ist die tatsächliche Relevanz von öffentlichen Statements und Ankündigungen von Spitzenpolitikern? 

Kirchhoff: In derart zugespitzten Konstellationen müssen die Impulse zur Deeskalation von der obersten Ebene ausgehen; vertrauensbildende Maßnahmen auf anderen gesellschaftlichen Ebenen - die sogenannte multi-track diplomacy - sind nur flankierend oder zeitlich nachgelagert sinnvoll. Und im direkten Vergleich zu anderen Gegenwartskonflikten haben in der Russland-Ukraine-Krise öffentlich weithin sichtbare Vermittlungs- und Dialoginitiativen wie das Normandie-Format* ohnehin immense Relevanz. Das folgt auch direkt aus den geschilderten impliziten Konfliktpunkten. 

Die Art und der Ton der Aushandlungen mit Russland sind dabei integraler Teil des Konfliktgeschehens. Das Bekunden von Empathie und das Aussprechen von Drohungen sind jeweils nach innen und außen gerichtet. Für eine wirksame Abschreckung helfen nicht-öffentliche Kanäle allein naturgemäß wenig: eine Drohung wird erst dann ernstgenommen, wenn sie Zeugen hat, weil sie dann zur Vermeidung von Glaubwürdigkeitsverlust auch eingelöst werden muss. Das ernsthafte Ausloten von Optionen allerdings verlangt in der Regel viel Zeit hinter verschlossenen Türen – Zeit, die in der aktuellen internationalen Reaktion auf den Truppenaufmarsch schlicht fehlte.  

Sehr stark war auch Reisediplomatie der Staats- und Regierungschefs zu erleben. Spielen denn Vier-Augen-Gespräche eine Rolle bei der Konfliktlösung, etwa als vertrauensbildende Maßnahme?

Holper: Ja. Wenn die Beteiligten, wie jetzt in dieser Krise, immer tiefer in ein Gefangenendilemma geraten, können bilaterale Gespräche, die Macron und Scholz mit Selenskyj und Putin führen, ob vor Ort oder am Telefon, entscheidend sein, um weitere Eskalation aufzuhalten. 

Das neue deutsche Vorgehen mit der Kombination von Dialog und Härte, das in der Krisendiplomatie der letzten Wochen zu erkennen war, muss sich nun schnell und gezielt auf die neuen Realitäten ausrichten: Die klare Kante mit Blick auf Sanktionen dürfte im ersten Schritt vertrauensbildend für den Prozess gewirkt haben – selbst wenn sie inhaltlich gegen Russland gerichtet war. Nachdem nun Phase 2 des Konflikts begonnen hat, müssen alle noch möglichen Vier-Augen-Gespräche alles daran setzen, den verbliebenen Spielraum für friedliche Lösungen systematisch aufzuwerten. Es geht jetzt also darum, konkrete und substanzielle Anreize für die Abkehr von einer weiteren militärischen Eskalation zu entwickeln. Dieser Spielraum wird immer schmaler, aber er ist vorhanden und noch nicht ausgereizt. 

Ukraine-Konflikt als Chance? „Eine neue Vision für den eurasischen Raum“ könnte die Lage wenden

Momentan stehen sich teils Maximalforderungen einerseits und „rote Linien“ andererseits gegenüber. Auch deshalb wird über „gesichtswahrende“ Lösungen spekuliert. Gibt es allgemein ein „Rezept“ für Kompromisslösungen, die keine der beteiligten Parteien in ihrer innenpolitischen Glaubwürdigkeit beschädigen? Helfen etwa sprachliche Verklausulierungen, Abwarten - oder doch nur der handfeste „Kuhhandel“ in einer Verhandlungslösung?

Kirchhoff: Nachhaltig gesichts- und friedenswahrend gelöst werden können Konflikte nur, wenn die sich nicht widersprechenden Kerninteressen beider Seiten bedient werden. Es sind ja bei weitem nicht alles Nullsummenspiele, in denen jeder Gewinn von Partei A einen Verlust von Partei B bedeutet. Und nur bei diesen Nullsummenspielen ist ein „Kuhhandel“ nötig. So sind etwa die Sicherheitsinteressen Russlands mit Blick auf die Nato-Osterweiterung faktisch durchaus erfüllbar, ohne dass die sicherheitsbezogenen Kerninteressen von Staaten wie der Ukraine und Polen angegriffen werden. Anders sieht es bei der Wahrung der Kernprinzipien der europäischen Friedensordnung, der grundsätzlichen Freiheit von Bündnisentscheidungen sowie dem Respekt vor den Grundfesten der Völkerrechtsordnung aus. Hier geht es um echte Nullsummenspiele und auch der Kuhhandel als Modus der Kompromissfindung scheidet bei solchen feststehenden Prinzipien aus.

Holper: Die schwierige Frage ist daher: wie kommt man jetzt aus der Sackgasse von Maximalforderungen und roten Linien wieder heraus, damit man über die im Grunde zu vereinbarenden Kerninteressen sprechen kann, die angesichts der Kriegsdynamik mehr und mehr aus dem Blick geraten? Zunächst müsste man kleinschrittig Zusicherungen aushandeln. Keine Seite darf der anderen in den Rücken fallen, wenn sie, bildlich gesprochen, den Schützengraben verlässt. Es geht um eine Art Vertrauenskorridor durch die offene Schusszone. Und es braucht eine Aussicht auf realisierbare strategische Pfade, die die roten Linien umschiffen können: etwa Verhandlungen über allseitig tatsächlich akzeptable Ausnahmeregelungen, zum Beispiel für den Status der Volksrepubliken. Oder um Pufferzonen, etwa ein maßgeschneidertes non-alignment Modell - eine Art „Blockfreiheit“, aus der auch die Ukraine Vorteile ziehen kann. 

Man könnte die Drucksituation auch als Chance nutzen, eine wirklich neue Vision für den eurasischen Raum zu entwickeln. Die könnte gezielt die kooperative Logik von Helsinki, den Gedanken eines „ganzen, freien, friedlichen Europa“ und die realpolitische Logik der „konkurrierenden Einflusssphären“ von Jalta verbinden. Die Idee zum Beispiel einer pro-russisch orientierten Nato-Perspektive - sozusagen das Gegenmodell zu einer nicht pauschal ausschließbaren Nato-Beitrittsperspektive der Ukraine, ein Vorschlag von Volker Rühe, den Timothy Garton Ash kürzlich wieder aufgegriffen hat - klingt ja erstmal nach einer paradoxen Intervention. Vielleicht lässt sich das ganze Spiel aber erst dann wieder zu etwas Gutem wenden, wenn man sich auf das zurückgewiesene Teilhabeinteresse hinter Russlands roter Nato-Linie besinnt. Indem man - auch und gerade angesichts der aktuellen Eskalation - den Weg Richtung engere Zusammenarbeit konkret ausbuchstabiert, unter klarer Benennung der Bedingungen, die ihn begehbar machen würden.

Deutschland im Ukraine-Konflikt: Lob für Scholz - Zögerlicher Start, dann gelungener Auftritt bei Putin

Wie kann nun ein eher mittelbar betroffenes Land wie Deutschland am besten deeskalierend eingreifen? Sind eigene Bemühungen als Vermittler gerade für Deutschland sinnvoll - oder wären gemeinsame Anstrengungen der EU wirkungsvoller?

Kirchhoff: Zunächst würde ich anzweifeln, ob die Betroffenheit Deutschlands wirklich eine nur mittelbare ist: mit Blick auf politische sowie wirtschaftliche Interessen und Investitionen, die künftige Energieversorgung, Fragen der europäischen Sicherheitsarchitektur und der Relevanz völkerrechtlicher Grundfesten spielt sich der Konflikt durchaus im Kern einer werte- und interessengebundenen Außenpolitik ab. 

Und es ist natürlich kein Zufall, sondern handfeste geostrategische Symbolpolitik, dass Putin zwar die EU als Verhandlungsgegenüber bewusst diskreditiert, wohl aber offen für Gespräche mit Frankreich als größter Militär- und Deutschland als größter Wirtschaftsmacht Europas ist. Gleichzeitig ist der geeinte Auftritt der EU-Staaten elementar wertvoll als Hintergrund- und Drohkulisse; jegliche Risse in der inneren Kohärenz würden mit Sicherheit entdeckt und genutzt. Obwohl also die EU nicht als primärer Akteur aufgetreten ist, lässt sich der inneren Reaktion der EU auf die aktuelle Krise viel abgewinnen. Und auch die konkrete Rolle Deutschlands im Reigen der Vermittlungsinitiativen war nach zögerlichem Start geglückt. In eher zurückhaltendem Ton, aber faktisch fest; die Doppelbotschaft aus Dialog und Härte zu senden ist zumindest bei dem Besuch von Scholz in Moskau den Umständen entsprechend gut gelungen. 

Bundeskanzler Olaf Scholz und Russlands Präsident Wladimir Putin zu gemeinsamen Gesprächen in Moskau.
Bundeskanzler Olaf Scholz und Russlands Präsident Wladimir Putin trafen sich Mitte Februar zu gemeinsamen Gesprächen in Moskau. © Kay Nietfeld/dpa

Zumindest am Beispiel Nord Stream 2 wurden aber auch unterschiedliche Strategien der Nato-Staaten ersichtlich: Joe Biden etwa nennt die Pipeline als konkretes Druckmittel, Olaf Scholz vermeidet das. Ist es im Allgemeinen sinnvoll, möglichst konkret zu drohen – oder eher Unklarheit aufrechtzuerhalten? Und auch: Können öffentliche Drohungen überhaupt dazu beitragen, einen Konflikt zu lösen?

Holper: Eine Drohung ist ein zweischneidiges Schwert: sie soll abschrecken und tut es nicht selten auch, kann aber auch kaum kontrollierbare Eskalationsdynamiken lostreten, wenn die bedrohte Seite - oder deren Wählerschaft - ein erzwungenes Einlenken als Niederlage wahrnimmt und sich genötigt fühlt, die Drohung zu testen oder ihr mit einem Defensivangriff zuvorzukommen. Dadurch gerät wiederum die drohende Seite unter Zugzwang, das Angedrohte trotz oft sehr hoher Kosten für sich selbst wahrzumachen - und so weiter. 

Für eine Deeskalation ist es dennoch wichtig, die Grenze des Akzeptablen klar zu benennen, statt Unklarheit aufrechtzuerhalten. Statt einer Drohung mit Vergeltungsmaßnahmen können, wie es jetzt auch schon vielfach versucht wird, die verlustreichen wirtschaftlichen, politischen, geostrategischen Konsequenzen der Grenzüberschreitung selbst benannt werden. Damit geht man weniger Risiko ein, das Gegenteil zu erreichen, die Wirkung dürfte in einer so aufgeheizten Situation aber in der Tat geringer ausfallen.

In der jetzigen Situation scheinen die Sanktionsdrohungen jedoch keine Abschreckung erwirkt zu haben. Sei es, weil sie aus russischer Perspektive letztlich verkraftbar sind, weil sich Putin eher zum Gegenschlag herausgefordert sah oder weil der mittelfristige Fahrplan ohnehin bereits feststand.

Ukraine-Krise: Sogar Selenskyj kennt Sanktionspläne nicht - eine bewusste Abwägung der Nato?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj* klagte zuletzt, er sei nicht in Kenntnis über Sanktionspläne der Nato gesetzt worden. Wie wichtig ist Informationsfluss in solch einer Krise?

Holper: An dieser Stelle kann es tatsächlich eine bewusste Abwägung der Nato im Sinne der Deeskalation gewesen sein, die Ukraine nicht vorab in Kenntnis zu setzen, um sie symbolisch nicht vorrangig zu behandeln. Sollten Deutschland und Frankreich versuchen, die vermittelnde Rolle des Normandie-Formats wirklich wiederzubeleben, bestünde eine Aufgabe sicherlich in der Herstellung eines möglichst zuverlässigen und ausgeglichenen Informationsflusses mit allen Seiten.

Kirchhoff: Je präziser Sanktionspläne benannt werden, desto rationaler können Verhaltensoptionen abgewogen werden. Das strategische Im-Unklaren-Lassen über die Kosten einer Invasion fungiert sozusagen als Pendant zur Ungewissheit, was Russland militärisch plant und ist damit durchaus klug. Dass das Vorenthalten von Informationen, die für die künftige Existenz der Ukraine derart essentiell sind, gleichzeitig als diplomatischer Affront gegenüber dem Präsidenten des betroffenen Landes angesehen werden kann, steht allerdings auf einem gänzlich anderen Blatt.

Falls Ihnen danach ist, zum Abschluss noch eine „politik-theoretische“ Frage: Spielen „Normen“ ethischer Art oder in Form des Völkerrechts, Verträge und Ähnliches bei Konfliktlösungen überhaupt noch eine Rolle, oder sind diese Ebenen ab einem gewissen Eskalationsgrad ohnehin irrelevant?

Kirchhoff: Fakt ist natürlich, dass selbst grundlegende Normen des Völkerrechts in eskalierten Konflikten sehenden Auges gebrochen werden – und dass dem internationalen System oft die Mechanismen fehlen, diese Normbrüche angemessen zu sanktionieren. Gleichzeitig wird bei einer kurzen Analyse der Wortbeiträge und Rechtfertigungsnarrative aller Parteien der Ukraine-Russland-Krise klar, dass Grundsätze wie das Gewaltverbot oder die territoriale Unversehrtheit den alles entscheidenden Referenzrahmen bilden, von dem die öffentliche Meinung und die Legitimität internationaler Reaktionen abhängen.

Die Frage etwa, ob der Truppenaufmarsch bereits als laut Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta untersagte Androhung von Gewalt – als staatliche Handlung, die die Anwendung militärischer Gewalt möglich erscheinen lässt – einzustufen ist oder nicht, wirkt vielleicht zunächst theoretisch. Gleiches gilt für die Frage, unter welchen Bedingungen eine Schutzverantwortung Russlands gegenüber eigenen Staatsangehörigen in der Ostukraine konstruiert werden kann. Beides aber prägt die Verlautbarungen und sicherlich auch die harten strategischen Abwägungen beider Seiten.

„Auch im Moment des Normbruchs investiert Putin in ein ebenso komplexes wie durchsichtiges Narrativ.“

Lars Kirchhoff

Was heißt das konkret mit Blick auf Putin - der Regelverstoß durch die Anerkennung ist unter anderem von den Vereinten Nationen schnell klar benannt worden?

Kirchhoff: Auch im Moment des Normbruchs investiert Putin in ein ebenso komplexes wie durchsichtiges Narrativ. Kurzum: Normen bestimmen im Moment der Aggression nicht das Handeln, wohl aber dessen Kontextualisierung und Rechtfertigungsversuche. Damit erzwingen sie eine Einhegung aggressiver Impulse und haben durchaus echte Relevanz. Gleichzeitig wird man Putin nicht über normative Appelle an den Verhandlungstisch zurückzwingen können, sondern nur über internationale Geschlossenheit und kompromisslose Sanktionen, also spürbare Härte.

Holper: Eine nicht-gewaltgeprägte Ko-Existenz wird auf lange Sicht aber wiederum nur möglich sein, wenn auch eine echte Dialogbereitschaft spürbar wird, die zumindest die Existenz von Russlands Perspektive – wenn auch nicht seine Handlungen – in der Weltgemeinschaft anerkennt. Für das deutsche Vorgehen heißt das jetzt, dass die Kombination von Härte und Dialog neu kalibriert werden muss; beides ist also weiter, aber anders gebraucht.

Interview: Florian Naumann *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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