Neue deutsche China-Strategie: Vertraulicher Entwurf aus Baerbocks Ministerium geleakt

Der erste Entwurf der künftigen China-Strategie der Bundesregierung wurde dem Spiegel zugespielt. Ein exklusiver Einblick in Annalena Baerbocks Sicht auf Peking.
Berlin/München – Seit Monaten wartet das politische Berlin gespannt auf die erste China-Strategie einer deutschen Bundesregierung. Die Ampel hatte in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, eine Strategie zu entwickeln, die Leitlinien liefern soll für den Umgang mit der neuen, autoritär regierten Großmacht. Doch Ukraine-Krieg und Energiekrise haben das Projekt immer wieder aufgehalten. Nun sind durch eine Indiskretion Details bekannt geworden. Jemand aus dem Auswärtigen Amt von Ministerin Annalena Baerbock hat den ersten Entwurf an den Spiegel durchgestochen.
Da es sich um die Rohfassung handelt, die noch nicht mit anderen Ministerien oder unter den Ampelpartnern abgesprochen ist, spiegelt dies erst einmal die Sichtweise des Teams der Außenministerin wider. Baerbocks Haltung ist bekannt: Sie prägte schon im Wahlkampf 2021 das Motto vom „Mix aus Dialog und Härte“ und will eine wertegeleitete Außenpolitik. Passend dazu sollen die Menschenrechte stärker ins Zentrum der deutschen Chinapolitik rücken, wie der Spiegel am Dienstagabend unter Berufung auf das Papier berichtete. Die Menschenrechte seien „unteilbar, nicht relativierbar – weder kulturell noch religiös“, heißt es darin. Die Einhaltung der Menschenrechte sollten maßgeblich bei der künftigen Ausgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen sein: „Wirtschaftliche Entwicklung und Menschenrechte stehen nicht im Widerspruch zueinander.“
Das Auswärtige Amt wolle wirtschaftliche Abhängigkeiten „zügig und mit für die deutsche Volkswirtschaft vertretbaren Kosten“ verringern, zitiert das Nachrichtenmagazin aus dem als vertraulich eingestuften Dokument. Lieferketten sollten diversifiziert, kritische Rohstoffe in Lagern vorgehalten werden. In industriellen Schlüsselbereichen dürften Deutschland und die gesamte EU „nicht abhängig werden von technologischen Fortschritten in Drittstaaten, die unsere Werte nicht teilen“.
China-Strategie: Indiskretion aus dem Außenministerium von Annalena Baerbock
Warum jemand den Entwurf der China-Strategie geleakt hat, und wer es war, ist unklar. Wollte jemand das Tempo erhöhen? Oder die Sichtweise des Auswärtigen Amtes bekannt machen, bevor das Papier in koalitionsinternen Gesprächen möglicherweise verwässert wird? „Alle der durchgesickerten Zitate stehen im Einklang mit der klaren China-Politik“, die Außenministerin Baerbock seit Amtsantritt der Ampelregierung formuliert habe, betont Thorsten Benner, Direktor des Global Public Policy Institute in Berlin. Auch sind die meisten der vom Spiegel erwähnten Maßnahmenvorschläge in Grundzügen bekannt. Die beschriebene Diversifizierung von Zulieferländern wird breit diskutiert. Viele Unternehmen suchen nach China-Alternativen, zuletzt am Wochenende auf der Asien-Pazifik-Konferenz in Südostasien. Die im Papier erwähnte Deckelung der Exportgarantien hat Wirtschaftsminister Robert Habeck bereits angekündigt.
Die EU bezeichnet China als „Partner, Konkurrent und Systemrivale zugleich.“ Das Außenministerium übernimmt diese bekannte Formulierung – doch laut Spiegel mit dem Zusatz: „Die beiden letzteren Aspekte gewinnen jedoch zunehmend an Gewicht“. Das Papier kritisiert zudem – wenig überraschend – Chinas prorussische Haltung im Ukraine-Krieg und die Drohungen Pekings gegenüber Taiwan.
Benner warnt davor, „ein Dokument auf der Grundlage eines einzigen Nachrichtenartikels zu beurteilen, bei dem wir dem ausgeliefert sind, was ein paar Journalisten für besonders hervorhebenswert halten.“ Doch das Dokument zieht bereits seine Kreise. Die Deutsche Presse-Agentur fragte in Peking am Donnerstag nach einer Reaktion. Das chinesische Außenministerium ließ daraufhin verlauten, die Einstufung Chinas als „Wettbewerber“ und „systemischer Rivale“ sei ein „Erbe des Denkens aus dem Kalten Krieg“. Die chinesische Regierung lehne auch die „Verunglimpfung Chinas durch die deutsche Seite“ mit sogenannten Menschenrechtsfragen sowie „Lügen und Gerüchten“ ab.
Baerbocks Amt spricht sich zwar laut Spiegel gegen eine „neue Blockkonfrontation“ aus. Doch das Papier sage eben auch: „Im Systemwettbewerb dürfen wir keine strategischen Lücken lassen.“
Annalena Baerbocks China-Strategie: Der erste Entwurf wird sich verändern
Doch der Strategie-Entwurf wird sich ohnehin noch mehrmals verändern, da er Verhandlungsrunden mit den Ampelpartnern und anderen Ministerien durchlaufen muss. Die China-Strategie soll Teil der ebenfalls angekündigten Nationalen Sicherheitsstrategie Berlins sein. Auch diese wird die erste ihrer Art sein und soll Anfang 2023 herauskommen. Erst danach soll die China-Strategie folgen.
Generell ziehen die Grünen von Außenministerin Baerbock und die FDP in ihrer Sichtweise auf die China-Politik weitgehend an einem Strang. Beide betonen die Wichtigkeit der Menschenrechte und einer stärkeren Orientierung an Werten. Etwas vorsichtiger oder auch realpolitischer agieren dagegen die SPD und Bundeskanzler Olaf Scholz. Der Kanzler setzte kürzlich – gegen die Bedenken mehrerer Fachministerien – den Einstieg der chinesischen Staatsreederei Cosco in einem Hamburger Containerterminal durch. Dem chinakritischeren Wirtschaftsministerium von Robert Habeck gelang nur eine Senkung des Höchstanteils auf unter 25 Prozent. Und Scholz reiste gerade erst mit einer Wirtschaftsdelegation nach China, viele, vor allem große Unternehmen, wollen weiter in der Volksrepublik investieren.
Dass Scholz bei seinem Besuch in China von Staatschef Xi Jinping eine Verurteilung von Atomwaffeneinsätzen bekam, wertet man im Kanzleramt als Erfolg der Strategie des Dialogs. Zumal China auf dem gerade zu Ende gegangenen G20-Gipfel auf Bali einem Kompromiss zustimmte: Die Abschlusserklärung des Gipfels enthält eine scharfe Verurteilung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine durch „die meisten“ G20-Mitglieder. China trug das mit. Das ist willkommen. Doch ob sich an Chinas grundlegender Haltung zu Russland etwas geändert hat, ist nicht ausgemacht.
China-Strategie: Menschenrechte und Sicherheitspolitik
Neben den Menschenrechten spielt die Sicherheitspolitik laut Spiegel eine große Rolle in dem Entwurf: „Wir sehen China zunehmend als militärischen Akteur, dessen Fähigkeitsaufbau und konkretes Verhalten Europas Sicherheitsinteressen beeinträchtigen.“ Das Amt warnt demnach vor allem vor der rasanten Stärkung der chinesischen Marine und dem Ausbau des Atomwaffenarsenals. Man erwarte von Peking, dass es über seine Atomwaffen „in einen vertrauensbildenden Dialog mit den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats trete, insbesondere mit den USA.“
Das Dokument beschreibt die deutsche China-Strategie. Doch diese ist längst in die EU-Politik eingebettet. So geht es in den vom Spiegel erwähnten Stellen etwa um mögliche Verbote von Produkten aus Zwangsarbeit – ein Thema, an dem auch die EU derzeit arbeitet. Das einzig überraschende an den Auszügen sei die darin enthaltene Unterstützung eines Investitionsabkommens mit Taiwan, meint Noah Barkin, China-EU-Experte der Denkfabrik Rhodium Group. „Ein solches Abkommen ist mit der Ein-China-Politik der EU vereinbar“, heißt es in dem Artikel. Barkin ist aber skeptisch: „Ich glaube kaum, dass dies die Zensoren im Kanzleramt passieren wird.“