Merkel im Kanu und Aiwanger ohne Bein: Das Nockherberg-Singspiel

Krieg, Corona, Klimakrise: Sind wir nicht alle reif für die Insel? Die Politiker im Nockherberg-Singspiel auf jeden Fall. Sie sind gestrandet und tun nun, was sie in realen Notlagen auch tun: Sie streiten wie im Kindergarten. Nach drei Jahren ohne Aufführung zeigte sich das mit etlichen Neulingen bestückte Ensemble prächtig aufgelegt.
München – Die schönste Publikumsbeschimpfung des Stücks haben sie Dieter Reiter in den Mund gelegt. Der Münchner OB, dargestellt von Gerhard Wittmann, ist eigentlich gar nicht Teil der Handlung. Er muss ganz alleine einen Stammstreckentunnel graben und taucht nur ab und zu aus einer Luke am Strand auf, um festzustellen, dass er schon wieder nicht am Ostbahnhof gelandet ist. Einmal aber hält er inne. Er schaut über die ersten Zuschauerreihen hinweg und schwärmt: „Mei, des Meer. Eigentlich a schöner Anblick, verglichen mit dem, was i sonst immer anschauen muaß. All die Freibierlätschn. Die Watschngsichter von der CSU. Und die Habenschaden, die sich mit auf jedes Foto baazt.“ Die Adressierten im Meer der Großkopferten vor der Bühne danken es ihm mit Gelächter.
Die Insel, unter der Reiter buddelt, ist Schauplatz einer waschechten Katastrophe. „Gestrandet“ heißt das Singspiel. Bayerische und Bundespolitiker hat es nach einer Bruchlandung mit dem Flugzeug hierher verschlagen, ohne Nahrung und von der Außenwelt abgeschnitten. Mit diesem simplen Trick haben sich die Autoren Stefan Betz und Richard Oehmann die Bürde vom Hals geschafft, nach drei Jahren Nockherberg-Funkstille die realen Krisen unserer Zeit thematisieren zu müssen – und können doch zeigen, wie unsere Entscheidungsträger sich so in Notlagen verhalten. Leicht überspitzt, versteht sich.
Markus Söder macht erst mal ein Selfie. Nockherberg-Neuling Thomas Unger erklimmt als Erster in schmutziger Kluft das mitten in die schlichte Kulisse (Bühne: Evi Stiebler) gestellte Bergerl und vergeudet das letzte Bisschen Handy-Akku für Instagram. Im Schlepptau des Landesvaters: „der Dings, der Maier Michael“. Gemeint ist CSU-Generalsekretär Martin Huber, dessen Farblosigkeit sich mit der Wurstigkeit des Landesvaters paart, sich seinen Namen richtig zu merken.
Es ist das 70. Singspiel auf dem Nockherberg, wie Paulaner-Chef Andreas Steinfatt anfangs vorrechnet. Und die Älteren unter den Zuschauern erinnern sich: Das Insel-Thema, ein Ministerpräsident mit Adlatus, das gab’s schon mal. Edmund Stoiber (Michael Lerchenberg) als Robinson Crusoe und Markus Söder (Stephan Zinner) als Freitag schlugen sich 2006 durchs Inseldickicht. Man darf es Betz und Oehmann als Souveränität auslegen, dass sie das nicht schert – weil sie wissen, dass ihre Themen und ihr Ensemble zum Jubiläum keine Wehmut aufkommen lassen.
Das gilt vor allem für die neuen Darsteller der Ampel-Koalitionäre, die unter einem gelben Schlauchboot auf die Bühne stolpern. Christian Pfeil spielt seinen Namensvetter Lindner mit fast schon beängstigender Akkuratesse. Thomas Limpinsel steht ihm als cool-verspulter Akademiker Robert Habeck ins nichts nach. Das Kompetenzgerangel der beiden sorgt für die größten Lacher. Die erste Überraschung des Abends ist freilich Nikola Norgauer, zwar kein Neuling, aber als Kanzler Scholz brillant.
„Wir sind noch nicht ganz da, wo wir sein sollten“, deklamiert sie. „Mensch Olaf, Du stehst schon wieder quer im Stall“, entgegnet Habeck. „Ich seh das Meer und den Strand – aber ich seh auch einen Möglichkeitsraum mit Entscheidungskorridor, den wir beschreiten sollten.“ Lindner widerspricht: „Ich sehe einen enormen Investitionsstau. Hier fehlt es an unternehmerischer Chuzpe.“ Damit ist auch schon alles gesagt.
Freilich noch nicht gesungen: Komponist Toni Weber sorgt zusammen mit den Musikern vom Café Unterzucker – verkleidet als Palmen – für Stimmung: von Reggae und Hip-Hop bis zu Shantys und Glamrock (und von „How deep is Olaf“ über „Olaf Rock ’n’ Roll“ bis zu „Caravan Olaf“).
Derweil wetteifern die Bayern im Landtagswahlkampfmodus mit der Ampel, wer in der Wildnis am besten zurechtkommt, als wär’s ein Fußballspiel im Kindergarten. Unreif auf der Insel. Neuling Unger kommt dabei der schwerste Part zu: Die Rolle des „unsinkbaren Söder“, der seine Parteifreunde nicht ernst nimmt und Vornamen verwechselt, ist schon arg auserzählt. Er spielt den Landesvater zurückhaltender und womöglich näher am Original als sein Vorgänger Zinner, dafür weniger als klamaukigen Macker. Man darf raten, was dem echten Söder unter PR-Gesichtspunkten lieber ist.
Für die großen Gags sind andere zuständig: Roland Schreglmann debütiert als Martin Huber fulminant. Ambitionslos unterwürfig, preist der Mann ohne akademischen Titel seinen „Doktor Markus Söder“. Ohne Erfolg, dafür unter Lachsalven der Zuschauer. Und Stefan Murr gibt als Hubert Aiwanger sprichwörtlich alles. Als er den Grünen Insektenfressern zeigen will, wie ein Bauer und Jäger am rechten Rand einen Thunfisch angelt, beißt ihm ein Hai zuerst den Arm, dann das Bein ab.

Da hat es Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze doch leichter. Zwar ist sie die einzige Frau auf der Bühne – feministische Außenpolitik ist auf der Insel definitiv noch nicht angekommen. Aber sie kann doch verhindern, dass die hungrige Männermeute sie verspeist. Es ist eine Wucht, wie Double Sina Reiß dem Original in Sachen aufgekratzter Energie gleichkommt, wenn sie zur Musik von „Ballroom Blitz“ chauvinistische „Pimmel-Politik“ anprangert.
Und wenn man denkt, dass es heute aber doch recht wenig Handlung hat, kommen die großen Sensationen: Ex-Kanzlerin Angela Merkel (Antonia von Romatowski) kreuzt im Kanu vor der Insel und singt „Je ne regrette rien“. Helfen will sie den Verzweifelten nicht – sie ruft ihnen nur zu, dass sie keiner vermisst. Auch Oppositionsführer Friedrich Merz (großartig: David Zimmerschied) taucht mit Harpune auf – taugt aber nicht zum Retter. Er hat sich die Schlüssel zu seiner Cessna klauen lassen.
Und zwar von einer Reichsbürgerin mit Maschinenpistole und Hund „Sigurd“. Damit ist Betz und Oehmann wohl die größte Überraschung gelungen: Mit getönter Brille und viel Bauchgefühl steht da Gisela Schneeberger, drischt Verschwörungstheorien und droht den Politikern mit Umsturz. „Fast wia im richtigen Leben“, denkt man sich.
Und so wird einem am Ende dieses gelungenen Stücks, das gar nicht von Krieg, Corona und Klimakrise handelt, bewusst, wie viel verrrückter diese Welt geworden ist in den vier Jahren seit dem letzten Nockherberg. Gott sei Dank holt OB Reiter sie am Ende alle ab und bringt sie sicher zum Marienplatz.