Lauterbach erklärt Corona-Wiesn-Dilemma: „Natürlich, das sind Widersprüche“

Roderich Kiesewetter (CDU) fordert Gelassenheit gegenüber Putin und lobt Bundeskanzler Scholz. Karl Lauterbach (SPD) fürchtet einen Corona-Winter.
Berlin – Die Kriegsreporterin Katrin Eigendorf war gerade noch in der von der Ukraine rückeroberten Stadt Isjum, wo nach dem Abzug russischer Truppen Massengräber entdeckt wurden. Sie bewertet die Aggression von Wladimir Putin bei „Maischberger“ nicht als Neuigkeit: „Er hat von Anfang an den Westen als Gegner gesehen.“ Sie ist sich sicher, dass der Angriff auf die Ukraine erst der Anfang ist: „Das, was wir in der Ukraine sehen, ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, sondern der Beginn eines Krieges gegen den Westen im Allgemeinen.“
Denn der wahre Feind Putins seien die USA, der Westen und die westlichen Bündnisse. „Der Krieg hat 2014 begonnen, als sich die Ukraine klar in Richtung Westen bekannt hat.“ Die aktuellen Ereignisse lassen Eigendorf trotzdem nicht kalt. „Die Teil-Mobilmachung stellt eine neue Qualität in der Eskalation dieses Krieges dar“, bewertet sie.
Maischberger: Kiesewetter über Putin-Mobilisierung -„Das macht etwas mit der russischen Gesellschaft“
Roderich Kiesewetter sieht die Teil-Mobilisierung als ein deutliches Zeichen an die russische Bevölkerung, dass „die sogenannte Spezialoperation bisher nicht funktioniert hat“. Dies sei nun Putins Versuch, den Zusammenhalt der europäischen Staaten durcheinander zu bringen: „Das macht etwas mit der russischen Gesellschaft, denn die 300.000, die einberufen werden sollen, sind unter 28. Er macht keine große Mobilisierung, er geht bewusst an die junge Generation, die jetzt im Studium oder in der Ausbildung sind. Sie werden da rausgerissen. Das ist schon ein Zeichen der Niederlage. Wir nehmen es als Verunsicherung wahr.“
„Maischberger“ - diese Gäste diskutierten mit:
- Karl Lauterbach (SPD) – Bundesgesundheitsminister
- Roderich Kieswetter (CDU) – Außenpolitiker und Oberst a.D.
Als Experten:
- Micky Beisenherz – Moderator und Autor
- Katrin Eigendorf – Kriegsreporterin
- Dagmar Rosenfeld – Chefredakteurin Welt am Sonntag
- Henrike Roßbach – stv. Leiterin Parlamentsbüro Süddeutsche Zeitung
Maischberger: Kiesewetter spricht von Putins „Frühjahrsoffensive“
Kiesewetter glaubt zu wissen, was Putin vorhat: „Meine persönliche Einschätzung ist, dass sich Putin damit auf eine Frühjahrsoffensive vorbereitet.“ Damit blieben noch vier, fünf Monate Zeit, „denn die Soldaten müssen erst ausgebildet werden“. Diese Ausbildung dauere mindestens sechs bis acht Wochen. Die Forderung Kiesewetters ist eindeutig: „Die Ukraine so früh wie möglich und so stark wie möglich unterstützen.“
Putin stehe innenpolitisch unter starkem Druck. „So angeschlagen war er noch nie“, sagt Eigendorf. Erstmals komme Kritik aus der parlamentarischen Opposition. Man müsse wissen, dass die „echte Opposition“ in Gefängnissen oder Straflagern sitze. Der Bevölkerung hingegen sei der Krieg „ziemlich egal“: „Keiner kritisiert ihn öffentlich, aber auch keiner rennt jubelnd auf die Straße.“ Wenn er den Krieg in die „Mitte der Gesellschaft“ trage, was er durch die Teil-Mobilisierung mache, dann schade er sich selbst, weil der Krieg in der Bevölkerung ankomme. „Wenn die Bevölkerung merkt, dass der Krieg ihnen schadet, hat Putin ein Problem.“

Putins Atomwaffen-Drohung: CDU-Mann: „Ich halte sie für einen Bluff“
Aber was, wenn der angedrohte Einsatz von Atomwaffen wirklich „kein Bluff“ ist, so wie Wladimir Putin in seiner Ansprache gesagt hat? „Ich halte es für einen Bluff“, sagt Kiesewetter, „weil er sich damit außenpolitisch isolieren würde.“ Putin habe schon vor zwölf Jahren mit Nuklearübungen begonnen, große Heeresübungen seien immer geendet unter der Einmischung von taktischen Nuklearwaffen, zumindest auf dem Papier. Mit dem Einsatz von taktischen Nuklearwaffen, die eine Sprengkraft von einem Hundertstel der Hiroshima-Bombe hätten und im Feld mitgeführt werden könnten, würde sich Putin isolieren. „China und befreundete afrikanische Staaten würden sich abwenden“, ist sich Kiesewetter sicher.
Putin müsse klar aufgezeigt werden, dass er in der Konsequenz seine Machtbasis verliere. „Das ist unsere Chance“, sagt Kiesewetter, der glaubt, dass Putin schwindelt. Der russische Präsident sagte, dass seine Waffen moderner seien, womit er nur zeige, dass er vorgerüstet habe, und vorgebe, bereit zu sein, diese Waffen einzusetzen. „Damit drückt er eine Unterlegenheit aus, weil er mit etwas droht, das weltweit geächtet ist“, analysiert Kiesewetter. Man müsse verstehen, dass diese Sprache nach innen gewandt sei, um eine Scheinstärke aufzubauen. „Ich glaube auch, dass unser Kanzler heute vor den Vereinten Nationen die richtigen Worte gefunden hat.“
Weiterhin spricht sich Kiesewetter für umfängliche Waffenlieferungen aus, um die Ukraine in eine Verhandlungsposition zu bringen, bisher erfolge die Lieferung bloß „scheibchenweise“.
Gas aus Aserbaidschan: „Wir gehen ständig Kompromisse ein“
Ein weiteres Thema ist Gas. Es gibt kein Gas mehr aus Russland, dafür aber aus Aserbaidschan. Jenes Aserbaidschan, das von Ilham Aliyev regiert wird, der gerade das demokratische Armenien überfällt. Für Micky Beisenherz ein klarer Fall von „selektiver Moral“: „Das passt nicht zur wertegeleiteten Außenpolitik.“ Dagmar Rosenfeld sieht es pragmatisch: „Wenn wir nur noch mit lupenreinen Demokraten zusammenarbeiten wollen, dann wird es eng für uns.“ Mit diesem Dilemma müsse man nun leben. „Wir haben uns so abhängig gemacht, dass wir jetzt schauen müssen, woher wir unser Gas bekommen.“
„Wir gehen ja ständig Kompromisse ein“, urteilt Henrike Roßbach. „Auch wenn wir aus Kanada Fracking-Gas importieren, dann sind das Rohstoffe, die wir auf diese Art bei uns nicht gewinnen wollen.“ Das gleiche Dilemma sei es bei eigenem Atomausstieg und zeitgleichem Beziehen von Atomstrom aus Frankreich.
Karl Lauterbach: „Wir werden im Herbst sicher wieder mehr Schwierigkeiten haben, insbesondere im Winter“
Lange Zeit war es stiller um Corona und stiller um Karl Lauterbach. Bei „Maischberger“ war der Gesundheitsminister für ein Einzelinterview zu Gast. US-Präsident Joe Biden sagte, die Pandemie sei vorbei. „Hat er Recht?“, fragt Maischberger. „Epidemiologisch natürlich nicht, weil wir an vielen Plätzen der Welt noch Infektionen haben. Eigentlich ist die Pandemie vorbei, wenn wir sie überall besiegt haben“, sagt Lauterbach. Trotzdem könne er verstehen, dass Biden seine persönliche Position kundtun wollte, um ein Wohlfühlmoment vor schwierigen Wahlen zu schaffen.
„Wir werden im Herbst sicher wieder mehr Schwierigkeiten haben, insbesondere im Winter“, prognostiziert Lauterbach. Auch wenn die Sterblichkeit, wie von Christian Drosten formuliert, sich nun im Rahmen einer Grippeerkrankung bewege, seien die Langzeitfolgen nicht zu vernachlässigen. Bei schweren Verläufen sei auch ein Jahr später häufig das Herz beteiligt und Gefäße beschädigt.
Einerseits wird ein Oktoberfest gefeiert, andererseits müssen Bahnreisende Maske tragen. „Natürlich, das sind Widersprüche“, gibt Lauterbach zu. Die komplette Aufhebung der Maskenpflicht sei allerdings „verantwortungslos“ und würde zu hohen Fallzahlen führen. Doch wie wird dieser Widerspruch begründet? Der Besuch des Oktoberfestes erfolge freiwillig, wohingegen es Menschen gebe, die gezwungen seien, mit der Bahn zu fahren. Doch Karl Lauterbach beschäftigt sich nicht nur mit Corona. Auch zum Krieg in der Ukraine hat er eine Haltung. „Es wird unterschätzt, was wir schon geleistet haben, nur Großbritannien und die USA haben mehr Waffen geliefert.“
Maischberger – Fazit zur Sendung:
Die Nachricht von der Teilmobilisierung in Russland hat zu einer weltweiten Schrecksekunde geführt. Roderich Kiesewetter sieht die Gefahren eher auf russischer Seite und ruft zur konsequenten Unterstützung der Ukraine auf. Einen Nuklear-Schlag hält Kiesewetter für ausgeschlossen. Die Kriegsreporterin Katrin Eigendorf geht von zunehmenden Protesten der russischen Bevölkerung aus. Und dann wäre da noch Corona: Karl Lauterbach mahnt weiterhin zur Vorsicht, zeigt sich aber wesentlich zurückhaltender als in der Vergangenheit. (Christoph Heuser)