„Die Leute schildern die abenteuerlichsten Dinge“
Christian Lüdke ist Psychotherapeut und spezialisiert auf die Behandlung von Trauma-Patienten.
Er betreute Opfer und Angehörige der Terroranschläge von New York und Paris und schulte Spezialeinheiten der nordrhein-westfälischen Polizei. Im Interview erklärt er, warum unsere Sinne in Extremsituationen – und in Zeiten sozialer Netzwerke – verrückt spielen.
-Herr Dr. Lüdke, können Sie erklären, was im Kopf von Menschen vorgeht, die so einen Amoklauf sehen?
Der Körper schaltet um auf natürliche Schutzmechanismen, die wir noch aus der Steinzeit haben. Die genetische Information lautet: „Fliehe, kämpfe oder erstarre!“ Bei letzterem verfallen Menschen in einen Totstell-Reflex, teilweise in Verbindung mit einer gefühlsmäßigen Vollnarkose.
-Wie beeinflusst das die Wahrnehmung?
Die wird natürlich eingeschränkt. Da können Sie jeden Polizeibeamten fragen. Bei Zeugenbefragungen nach einem Unfall, der gerade fünf Minuten vorher passiert ist, schildern Zeugen Ihnen die abenteuerlichsten Dinge. Das reale Bild vermischt sich bei emotionalem Stress mit eigenen Fantasien, Befürchtungen, Erlebnissen – vor allem auch mit Erzählungen anderer. Das Gehirn kann das nicht mehr auseinanderhalten – was da im Kopf vor sich geht, ist reine Biochemie.
-In München war offenbar die Wahrnehmung, da seien drei Täter mit Langwaffen geflüchtet. Haben die Zeugen Polizisten mit den Tätern verwechselt?
Das kann sein. Die Polizeibeamten waren ja sofort in Alarmbereitschaft, es ist also nicht ausgeschlossen, dass die Zeugen auch Polizisten gesehen haben. Wie beim Stille-Post-Effekt: Je mehr Leute das erzählen, desto mehr verfremdet sich das Bild.
-Immer wieder hat es Falschmeldungen von angeblichen Schießereien in den sozialen Netzwerken gegeben. Wie kommt es, dass auch Menschen, die nicht unmittelbar betroffen sind, offenbar falsche Wahrnehmungen haben?
Das Stichwort sind tatsächlich die sozialen Medien. In der Medizin sagt man: Alles, was wirkt, hat auch Nebenwirkungen. Das Gleiche gilt auch für die Netzwerke. Sie haben eine absolut super Wirkung, ganz schnelle Informationen, man erreicht die Menschen, auch die Polizei nutzt sie intensiv. Trotzdem verbreiten sich in Ausnahmesituationen Halbwahrheiten, und das ist gefährlich. Man kann nur an die Nutzer appellieren, ausschließlich nachprüfbare Informationen zu teilen, denn Spekulationen werden von anderer Seite als Fakten übernommen. Grundsätzlich gilt aber: Informationen geben Sicherheit, gerade wenn es um große Gruppen geht oder wie hier um eine ganze Stadt.
-Was bedeutet der Vorfall für die Stadtgesellschaft? Kann man von einem kollektiven Trauma sprechen?
Nicht unbedingt. Heute ist es schreckliche Realität, dass wir immer und überall damit rechnen müssen, Opfer eines Anschlags zu werden. Das sorgt zum einen für große Verunsicherung – zum anderen aber auch für eine große Solidarisierung.
-In München haben viele etwa ihre Wohnungen zur Verfügung gestellt.
Richtig, die Leute in München haben toll reagiert. Solidarisierung ist unglaublich hilfreich, zeigt die Therapieforschung. Am Ende sind es nämlich nicht die Experten, die Menschen in akuten Krisensituationen helfen, sondern die unmittelbare Anwesenheit einer stabilen Person. Ein einzelner Mensch reicht aus, der eben nicht weinend vom Stuhl fällt.
-Bei all den Bildern, die über die Medien transportiert wurden – können auch Menschen traumatisiert werden, die nur vor dem Fernseher sitzen?
Ja. Wenn andauernd gezeigt wird, die der Täter ballernd aus dem Schnellrestaurant kommt, können wir schleichend selber traumatisiert werden. Aber da haben Menschen auch den gesunden Impuls, umzuschalten. Auch Kinder sollte man die Bilder nicht ungefiltert sehen lassen.
-Viele haben jetzt Angst – vor allem vor einem Anschlag auf der Wiesn.
Ich glaube, die Angst wird beim größten Teil der Bevölkerung nicht anhalten. Angst ist eine Grundbefindlichkeit bei uns Menschen. Man sagt: Die Summe aller Ängste bleibt gleich. Was sich ändert, ist die Angstrichtung. Mal habe ich Angst um den Job, mal um meine Beziehung. Durch die Vorfälle am Freitag treten andere Ängste zunächst in den Hintergrund, aber das normalisiert sich schnell wieder.
-Ohne Verdrängung kann man nicht leben?
Nein. Es ist fürchterlich, dass neun Menschen getötet wurden. Aber dennoch ist es für den normalen Münchner gefährlicher, Auto zu fahren. Wenn viele Menschen sterben, nehmen wir das anders wahr. Das ist wieder ein Steinzeit-Muster, das bei uns durchbricht. Damals haben wir in Gruppen gelebt. Und noch heute denken wir, wenn ein großer Teil unserer Gruppe auf einmal wegbricht, können wir nicht überleben. Wir kriegen in dem Moment Panik. Aber die vergeht wieder.
Interview: Johannes Löhr.