„Krieg ist Putins Lebenselixier“
Wladimir Putin will sich im März 2018 erneut zum Präsidenten wählen lassen. Ihm gegenüber steht eine zerstrittene und fragmentierte Opposition, die vom Kreml dennoch hart bekämpft wird.
Russland
Von Boris Reitschuster
Moskau – Die Reaktion des Kremls kam prompt und wandfüllend. Kaum war der Kongress der Kremlkritiker in der litauischen Hauptstadt Vilnius diese Woche zu Ende, schon zeigte der Staatssender RTR in seiner Talkshow „60 Minuten“ eine Art digitalen Pranger: Auf einer riesigen elektronischen Wand wurden im Studio die Bilder prominenter Teilnehmer eingeblendet – und diese als Russlandhasser dargestellt. Die Szenen erinnerten an die Propaganda gegen „Volksfeinde“ in finsteren Zeiten. Auch in seinen Nachrichten berichtete das staatgesteuerte russische Fernsehen intensiv über das „Forum des freien Russlands“, zu dem rund 250 russische Oppositionelle, Intellektuelle und Journalisten ins Baltikum angereist waren – teilweise aus Russland, teilweise aus dem Exil.
Dass die Moskauer Propaganda das Treffen der Regimegegner nicht totschwieg, sondern ausführlich berichtete, überraschte viele der Anwesenden. Einige werteten die Aufmerksamkeit als Indiz dafür, dass vier Monate vor den Präsidentschaftswahlen in Russland, bei denen Putin noch einmal antritt, die Suche nach Feindbildern intensiviert wurde – und mit ihr auch die Hetze gegen Andersdenkende. Andere wiederum interpretierten das Interesse der Staatsmedien als Zeichen der Nervosität im Kreml. Für Unruhe dort habe vor allem die „Putin-Liste“ gesorgt, die von den Oppositionellen in Vilnius entworfen wurde.
Diese Aufstellung enthält die Namen von hochrangigen und einflussreichen Männern und Frauen aus dem Umfeld des Präsidenten und dem System, die nach Ansicht der Kreml-Gegner für Verbrechen verantwortlich sind. Nach Auffassung der Regimegegner, die in Vilnius zusammenkamen, sollten sie deshalb von den westlichen Staaten auf die Sanktionslisten gesetzt werden. Auch Nicht-Russen stehen auf dem Entwurf der Liste – als „ausländische Agenten“ oder „Putinversteher“. So ist dort Ex-Kanzler Gerhard Schröder zu finden sowie der in den deutschen Medien oft zitierte Russland-Experte Alexander Rahr. Auch der frühere italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi und die Führerin des französischen Front National, Marie Le Pen, stehen auf der Liste. Persönliche Konsequenzen gegen Nutznießer des Systems Putin sind nach Ansicht vieler der Kreml-Kritiker das wirksamste Instrument des Auslands gegen den aggressiven Kreml-Kurs.
„Der Gesellschafts-Vertrag von Putins Mafia-Staat ist, dass er von seinen Leuten bedingungslose Loyalität erwartet. Im Gegenzug dürfen sie in Russland so viel stehlen wie sie wollen und das Gestohlene dann sicher im Westen anlegen“, glaubt Garri Kasparow, der ebenso streitbare wie umstrittene Oppositions-Politiker, die Gallionsfigur des „Forums des freien Russlands“. „Westliche Sanktionen bringen dieses Fundament von Putins System ins Wanken“, beteuert der frühere Schachweltmeister. Der russische Präsident verstehe das sehr gut und sei deshalb so empfindlich, was Strafmaßnahmen des Westens angehe – auch gegen nicht allzu hochrangige Beamte. „Es gibt Risse im System“, so Kasparow: „Wann die zum Zusammenbruch führen, können wir leider nicht sagen. Aber die gute Nachricht ist: Putin weiß das auch nicht.“
Putins Rückhalt in Russland beruhe auf seiner „Aura der Unbesiegbarkeit“. Sobald er Schwäche zeige, würde diese Aura gefährdet – und damit das System: „Deshalb kann Putin keine Kompromisse eingehen, nicht zurückstecken.“ Viele Politiker im Westen verstünden das nicht, so Kasparow. Viele seien auch korrumpiert: „Erst jetzt wird der gigantische Maßstab von Putins Einfluss deutlich, etwa in Deutschland und Österreich.“
Ausgerechnet mit seiner massiven Einmischung in den USA habe Putin die Gesellschaft dort wachgerüttelt, so Kasparow: „Wenn wir Kreml-Kritiker dort noch jahrelang über die Gefahren durch Putin erzählt hätten, wäre das bei Weitem nicht so wirksam gewesen wie sein eigenes Verhalten. Putin hat selbst dafür gesorgt, dass sich in der US-Politik kaum noch jemand Illusionen über ihn macht.“
Der Kreml-Chef werde weiterhin versuchen, mit außenpolitischen Abenteuern von den inneren Problemen abzulenken, so die Warnung Kasparows: „Die Frage ist nicht, ob Putin neue Angriffe starten wird, sondern nur wann und auf wen. Frieden wird es mit Russland erst geben, wenn Putin weg ist – für ihn ist Krieg das Lebenselixier.“ Er sei auf Gedeih und Verderb an den Kreml gebunden, es gebe für ihn keine Exit-Strategie, so Kasparow: „Er weiß – wenn er die Macht verliert, verliert er alles.“
Solche Töne bekamen die Zuschauer der russischen TV-Sender – unter ihnen auch viele der drei bis vier Millionen Russischsprachigen in Deutschland – nicht zu hören. Sie wurden mit teilweise aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten gegen die Kreml-Kritiker aufgehetzt. So hieß es, die Opposition plane, Russland auseinanderfallen zu lassen, oder sie freue sich zumindest auf so ein Szenario.
Von einem solchen Zusammenbruch war auf dem Forum tatsächlich die Rede – allerdings als Warnung. So erklärte etwa der frühere Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarjow, der heute im ukrainischen Exil lebt, die Ära Putin werde voraussichtlich mit „einer revolutionären Situation“ enden, mit katastrophalen Folgen bis hin zum „Zusammenbruch des Staates“. Es sei entscheidend, dass die Opposition auf dieses Szenario vorbereitet sei.
Die russische Opposition gilt traditionell als zerstritten und fragmentiert. Viele in Russland verbliebene Regimegegner stehen dem Forum um Kasparow skeptisch gegenüber, weil dort ihrer Ansicht nach die Exil-Kreml-Kritiker den Ton angeben. Sie hätten die Opposition in Moskau im Stich gelassen, lautet ein wiederkehrender Vorwurf.
So ließ es denn auch aufhorchen, dass diesmal mit Wladimir Aschurkow auch einer der engsten Vertrauten von Alexej Nawalny auftrat – dem derzeit wohl bekanntesten und beliebtesten Putin-Kritiker, der regelmäßig festgenommen und zu Arreststrafen verurteilt wird. Ob Nawalny zu den Wahlen zugelassen wird, gilt als fraglich. Auch eine Beraterin der Präsidentschaftskandidatin Xenia Sobtschak war aus Moskau angereist – die prominente Professorin Jelena Lukjanowa.
Beide machten keinen Hehl daraus, dass sie die Wahlen für eine Farce halten. Dennoch hielten sie die Teilnahme für hilfreich, um zumindest etwas politisches Kapital zu gewinnen. Aufgrund der Systemkrise in Russland seien weitreichende Veränderungen unumgänglich, und es werde zu einem runden Tisch kommen, an dem sich Vertreter von Regierung und Opposition zusammenfinden müssten, glaubt Aschurkow: Jetzt sei es wichtig, die Ausgangsposition dafür zu schaffen.
Die Mehrheit der Forums-Teilnehmer fand das offenbar nicht überzeugend: Sie verabschiedeten einen Appell, die Wahlen zu boykottieren. Und einen Aufruf an die Politiker im Westen und die FIFA, die Fußball-WM in Russland 2018 zu boykottieren.