Die Diamantenmacher von Augsburg
Das Gegenteil von Luxus: Diamanten könnten bald zur Massenware werden. Augsburger Forscher haben für eine Sensation gesorgt – sie haben den größten Diamanten der Welt im Labor gezüchtet. Er hat 155 Karat.
Der Stein der Rekorde
Von Stefan Sessler
Augsburg – Wenn man Weltrekorde brechen will, dann ist es immer gut, die Konkurrenz direkt vor den Augen zu haben. Matthias Schreck, 56, sitzt in seinem winzigen Büro in der Uni Augsburg, Fachbereich Experimentalphysik, wo sich die Bücher bis zur Decke stapeln, und nimmt ein Mordstrumm Edelstein aus der Schreibtischschublade. Er glitzert und glänzt. „Das ist der Cullinan I“, sagt Schreck, einer der berühmtesten Diamanten der Welt, 530,2 Karat, also über 106 Gramm, schwer und birnenförmig geschliffen. Fundort: eine Mine in Südafrika. Fundjahr: 1905.
Der Schleifer, der den Rohdiamanten vor über 100 Jahren bearbeitete, soll vor Ehrfurcht, vor Angst, ihn zu zerstören, in Ohnmacht gefallen sein. Soweit die Legende. Eine andere Geschichte geht so: Der niederländische Diamantenschleifer war nach getaner Arbeit so stolz, dass es eine große Party gab, er sensationelle Mengen Alkohol trank – und dann in Ohnmacht fiel.
Eines ist jedenfalls sicher – der Spitzname dieses sagenhaften Diamanten: der Große Stern von Afrika. Er ziert das Zepter der britischen Königin Elisabeth II. „Meiner ist aus Bergkristall“, sagt Matthias Schreck und lacht. Es ist natürlich nicht der echte Stein, den er seit Jahren in der Schublade hat. „Die Nachbildung muss als Vergleich herhalten.“ Und als Ansporn. Denn es ist so: Seit 26 Jahren erforscht der Doktor der Physik Diamanten. Heuer ist ihm der Durchbruch gelungen. Matthias Schreck und sein Team haben im Labor gleich nebenan einen Diamanten hergestellt, der eine größere Fläche hat als der berühmte Große Stern von Afrika. Es ist eine wissenschaftliche Sensation, die hier auf dem Augsburger Campus ihren Anfang genommen hat. Schreck hat den größten technisch hergestellen Diamanten der Welt gezüchtet, 155 Karat schwer und mit einem Durchmesser von 9,2 Zentimetern. Es hat gerade mal fünf Tage gedauert, bis er fertig war.
Der Augsburger Rekorddiamant schaut aus wie ein unförmiger, leicht gräulich eingefärbter Bierdeckel. „Das ist unser Riesenprügel“, sagt Matthias Schreck, während er den Edelstein aus einer Plastikhülle nimmt. In China kam der bayerische Stein aus dem Labor in den Abendnachrichten. In Deutschland ist der Rekord fast untergegangen. Doch bei Konferenzen auf der ganzen Welt wird Schreck inzwischen ehrfürchtig angesprochen. Sind Sie der Diamantenmacher aus Bayern? Solche Sachen fragen ihn die Kollegen plötzlich. In der Szene ist er eine kleine Berühmtheit.
Die Japaner arbeiten an einem ähnlichen Projekt – Diamantenproduktion aus dem Labor und mit Hilfe von Vakuumkammern, Chemikalien und elektromagnetischen Wellen. Der Prozess ist hoch kompliziert und fehleranfällig. Immer wieder sind Schrecks Diamanten in den Jahren zuvor geplatzt oder nicht gleichmäßig „gewachsen“, so nennen die Wissenschaftler den Prozess. Die Maschinen haben Schreck und seine Mitarbeiter großteils selber eingerichtet. Sie heißen „Elektronenstrahlverdampfer“ oder „Mehrkammerhochvakuumanlage für gepulste Laserablation“.
Kein Stoff auf dieser Welt ist härter, und keiner kann Wärme besser leiten. Diamanten sind nicht nur die teuersten Schmuckstücke auf dem Planeten, sondern auch extrem wertvolle Helfer in der Industrie. Damit werden Werkzeuge zum Schneiden oder Fräsen bestückt. Uhrenfirmen arbeiten zum Beispiel damit oder Bohrfirmen. „Wenn man mal fantasiert“, sagt Schreck, „dann könnten Diamanten irgendwann die Basiselemente für Quantencomputer sein.“ Auch wäre eine verschlüsselte Informationsübertragung möglich, die man nicht knacken kann. Die Labordiamanten, erzählt Schreck, könnten auch der Energiewende zu einem Sprung verhelfen.
Es gibt so viele Einsatzgebiete. Das, was hier in Augsburg passiert, könnte Diamanten zu einem vergleichsweise kostengünstigen Massenprodukt werden lassen. Mit zwei jungen Kollegen hat Schreck bereits eine Firma gegründet – die Augsburg Diamond Technology GmbH. Sie beliefert die Industrie mit ultraharten Labordiamant-Plättchen. Die Selbstbeschreibung, die Nicht-Physiker an ihre wissenschaftlichen Grenzen bringen dürfte, lautet: „Die Herstellung beruht auf dem Verfahren der Heteroepitaxie, bei dem Diamant in orientierter Form auf einem Fremdsubstrat aufgewachsen wird.“ Vereinfacht gesagt geht es darum, dass eine spezielle Gasmischung mit Mikrowellen zu chemischen Reaktionen angeregt wird und hochreaktive Kohlenstoffatome auf einer Oberfläche eine Diamantschicht wachsen lassen.
Der milliardenschweren Diamantindustrie steht womöglich eine Revolution ins Haus. Die Firma De Beers kontrolliert den größten Teil des weltweiten Markts. Sie ist ein Branchengigant mit einer jahrhundertelangen Geschichte, Gründungsdatum 1888. De Beers kaufte zum Beispiel auch den sagenhaften Cullinan auf – der Finder bekam 10 000 Dollar. Kurz darauf verkaufte die Firma den Stein für 750 000 Dollar weiter. Schnell verfügbare Diamanten aus dem Labor könnten das Geschäftsmodell ins Wanken bringen – deswegen baut De Beers vor. Das Unternehmen, das auf der ganzen Welt Diamantminen betreibt, forscht selbst nach Wegen, die edlen Steine im Labor zu züchten. „Element Six“ heißt die Tochterfirma. Denn es ist so: Bei den Diamanten aus der Augsburger Uni, sagt Schreck, handelt es sich genauso um Diamanten wie bei denen aus der Erde. Beide sind wissenschaftlich gesehen echt, sie haben die gleiche Struktur.
Schreck sitzt noch immer an seinem Schreibtisch. Er greift nach einer kleiner Plastikschachtel. Darin ist einer seiner neuesten Diamanten. Er ist kreisrund, klar und hat 16 Karat. „Daraus“, sagt er, „könnte man einen schönen Brillanten schleifen.“ Bisher haben die Augsburger kein Interesse am Schmuckmarkt. Sie fertigen ausschließlich für die Industrie. „Aber“, sagt er, „das ist natürlich im Hinterkopf.“ Und dann sagt er noch was: „Dicke kostet bei unseren Diamanten unglaublich viel Zeit, Energie und damit auch Geld – wenn jemand sagt, wir brauchen so einen dicken Prügel wie den Cullinan, dann könnte man ihn theoretisch mit unserem Verfahren schon herstellen, aber praktisch liegt dies in weiter Ferne.“ Also nicht nur in der Fläche weltrekordverdächtig, sondern auch in der Gesamtgröße.
Vielleicht müssen die Bestenlisten bald neu geschrieben werden. Und die Kunden müssen sich bald fragen: Kaufe ich meiner Frau einen handgeschürften Diamanten? Oder ist ein Labordiamant, der etwas weniger kostet und an dem mit Sicherheit kein Blut klebt, vielleicht nicht sogar besser? Schmuck aus synthetischen Kristallen wird momentan mit einem Abschlag von rund 30 Prozent verkauft. Das alles sind entscheidende Fragen, gerade kurz vor Weihnachten.