Brasilien
Geheime Chat-Gruppen: Wie Bolsonaro-Anhänger ihre Angriffe planten
- VonLisa Kunerschließen
Für den Sturm auf die Regierungsgebäude haben sich Rechtsextreme unter anderem auf sozialen Medien organisiert. Wie sehen diese digitalen Strukturen dort aus?
Brasilien – Codenamen, Kuchenrezepte und gecharterte Busse – auf verschiedenen Kanälen des Messengerdienstes Telegram ging es seit etwas mehr als einer Woche in Brasilien recht verschwörerisch zu. Gleichzeitig wurde auf Instagram und TikTok in Videos über Wahlbetrug gesprochen, auf Facebook und Twitter zur Fahrt nach Brasilia aufgerufen. Mehr oder weniger verdeckt wurde so der Putschversuch am 8. Januar in Brasilia auch auf den sozialen Medien vorbereitet.
Nach all diesen Ankündigungen eskalierte die Lage am Sonntag. Mehrere hundert Randalierer stürmten in Brasilia den Obersten Gerichtshof, den Kongress und den Präsidentschaftspalast und hielten die Gebäude mehrere Stunden unter Kontrolle. Bei dem Putschversuch wurden verschiedene Kunstgegenstände zerstört und mindestens acht Journalistinnen und Journalisten angegriffen. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva nannte die Randalierer „Faschisten“ und „Terroristen“.
Nun stellt sich die Frage, wer dahintersteckt und wie es dazu kommen konnte – und wie die Aktion vorbereitet wurde. Heloisa Massaro schaut dabei vor allem auf digitale Infrastruktur. „Seit ungefähr dem 4. Januar haben wir auf den Kanälen immer mehr Aufforderungen dazu gefunden, nach Brasilia zu fahren“, sagt sie im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Massaro ist Direktorin des Internetlabs, eines Thinktanks in São Paulo, das zu Digitalpolitik arbeitet. In einem Forschungsprojekt mit mehreren Universitäten beobachtet das Thinktank extremistische Channel auf Telegram.
Codewort: Selmas Party – Sturm auf Brasiliens Demokratie
In vielen dieser Chatgruppen versammeln sich schon seit längerer Zeit Anhängerinnen und Anhänger des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro. Der hatte die Stichwahl um das Präsidentschaftsamt Ende Oktober ganz knapp gegen seinen Herausforderer, den linksgerichteten Lula, verloren. Diese Wahlniederlage hat Bolsonaro nie öffentlich anerkannt – und viele seiner Anhängerinnen und Anhänger auch nicht.
Nach der Wahl kam es darum zu Straßenblockaden und Pro-Bolsonaro-Demonstrationen im ganzen Land. Außerdem wurden an verschiedenen Stellen Protestcamps errichtet und eine Militärintervention gefordert. Vernetzt habe sich die sogenannten Bolsonaristas dafür unter anderem auf Telegram. Unter dem Codewort „Festa da Selma“ (Selmas Party) haben sie seit Anfang Januar versucht, Menschen zur Fahrt nach Brasilia zu mobilisieren. Auch Kuchenrezepte, die Hinweise darauf lieferten, wie der Tag ablaufen sollte, wurden geteilt.
In den Gruppen wurden zudem Plätze in Bussen zur Fahrt in die brasilianische Hauptstadt angeboten und Aufrufe geteilt, die Regierungsgebäude zu besetzen. „Das alles geschah nicht wirklich im Versteckten“, meint die Wissenschaftlerin Massaro. Politische Organisation auf sozialen Medien und insbesondere auf Telegram ist nicht neu. „Seit der Wahl wurde dort immer wieder das Narrativ von Wahlbetrug kreiert“, erklärt Massaro. Ex-Präsident Bolsonaro hatte schon vor den Wahlen immer wieder von einem möglichen Wahlbetrug gesprochen. Es gibt allerdings keinerlei seriöse Anhaltspunkte, dass etwas bei der Wahl nicht mit rechten Dingen zuging. Der ganze Vorgang weist große Ähnlichkeit mit dem Vorgehen des Ex-Präsidenten der USA, Donald Trump, auf.
Brasilien: Bolsonaros Anhänger konstruieren eine Parallelwelt
„In den Chatgruppen wird eine Art paralleles Informationssystem konstruiert“, sagt Heloisa Massaro. „Die Menschen glauben an Dinge, die in ihr Weltbild passen.“ Nach dem Putschversuch werde nun beispielsweise immer wieder wiederholt, dass sogenannte „Infiltrierte“ für das Chaos und die Randale am Sonntag verantwortlich gewesen seien, während die wahren Bolsonaristas nur friedlich demonstriert hätten.
Nach der Amtseinführung von Lula war in den Gruppen behauptet worden, dass die Zeremonie nur „fake“ gewesen sei. Ansonsten gehe es in den Chatgruppen aber auch oft um Alltägliches, manchmal auch um Religion und Glaube. „Immer wieder sehen wir dabei auch Bilder aus klassischen Verschwörungstheorien“, fügt Massaro hinzu. Massaro und ihre Kollegen beobachten, dass sich auf Telegram vor allem radikalisierte Anhänger versammeln. Diese kreieren dort Erzählungen und Inhalte, die später auch auf anderen Netzwerken auftauchen. Wie genau sich diese Gruppen organisieren, ist schwer zu sagen. „Wir wissen nicht genau, ob es sich einfach um eine natürliche, organische Verbreitung von Informationen handelt, oder ob da irgendeine Art von Koordination dahinter steckt“, sagt Massaro. „Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem.“
Angeheizt werden die Diskussionen immer wieder durch zweideutige Aussagen des Ex-Präsidenten Bolsonaro. Außerdem gibt es ein ganzes Netz aus Influencerinnen und Influencern sowie konservativen Politikern und Politikerinnen, die die Narrative in die Öffentlichkeit tragen. Mit dabei ist oft Bolsonaros Sohn Carlos Bolsonaro. Auch wenn soziale Medien den Nährboden für Radikalisierung bieten: Aus der Sicht von Heloisa Massaro ist klar, dass man nicht allein extremistische Chatgruppen für die Situation im Land verantwortlich machen kann. „Man sollte dieses digitale Phänomen nicht isoliert betrachten“, findet sie. Stattdessen müsse man den Extremismus in Brasilien sowohl online als auch offline betrachten und als komplexes Problem wahrnehmen und angehen.
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