Stich ins Herz
von tobias hell „La bohème“ zählt für jedes Opernhaus, das etwas auf sich hält, zur verkaufsträchtigen Grundausstattung.
Und auch bei den Festspielen auf Gut Immling stand Puccinis Klassiker in den vergangenen Jahren wiederholt auf dem Programm. Die berechtigte Frage, ob es hier 2018 also schon wieder eine „Bohème“ sein muss, lässt sich dennoch mit einem emphatischen Ja beantworten. Regisseur und Intendant Ludwig Baumann ist mit dieser Neuproduktion ein Wurf gelungen, der die altbekannte Geschichte behutsam aktualisiert, das Stück dabei aber nie verrät.
Da werden gleich zu Beginn in der Künstler-WG weder Pinsel geschwungen noch Federn ins Tintenfass getaucht. Stattdessen verpasst Marcello dem etwas wehleidigen Rodolfo lieber ein Nationalspieler-taugliches Tattoo, bevor dieser sich wieder an seinen Internetblog machen darf. Und auch die verloschenen Kerzen, die eigentlich die Beziehung des (Online-) Poeten zu Mimì ins Rollen bringen sollten, weichen hier einem leeren Handy-Akku.
Dass es trotzdem nicht zu technisch oder gar nüchtern wird, dafür sorgen unter anderem die in satten Ölfarben verewigten Pariser Straßenszenen von Ekaterina Zacharova, deren Gemälde in den sonst weißen Bühnenraum projiziert werden und das pulsierende Leben der französischen Metropole treffend einfangen. Ganz zu schweigen vom emotionalen Schlussbild, das der sich tragisch zuspitzenden Musik eine rührselige Erinnerung an unbeschwerte Zeiten entgegensetzt und dem Publikum so einen zusätzlichen Stich ins Herz versetzt.
Den kleinen Ausflug ins Symbolistische mit den in Weiß und Schwarz gewandeten Engeln, die sich dezent in Nachbarschaft der todgeweihten Mimì aufstellen, hätte man sich ruhig sparen können. Denn ihre größten Stärken hat Baumanns Produktion immer dann, wenn es auf der Bühne menscheln darf und die Figuren ihre ganz alltäglichen Freuden und Nöte ausfechten. So verkommen Schaunard und Colline ausnahmsweise mal nicht zu Stichwortgebern, sondern positionieren sich aktiv im Geschehen. Was nicht zuletzt daran liegt, dass mit Modestas Sedlevičius und Givi Gigineishvili zwei ungemein spielfreudige Sängerdarsteller aufgeboten sind, die sich nicht so leicht ins Abseits drängen lassen.
Mehr als selbstbewusst präsentiert sich allerdings auch Zachary Wilson, dessen Marcello mit starker Bühnenpräsenz und einem frischen unverbrauchten Bariton aufwartet. Qualitäten, die es definitiv braucht, um im Streit mit seiner Musetta zu bestehen, die geradewegs aus „BibisBeautyPalace“ entsprungen scheint und mit Fans für ein Selfie nach dem anderen posiert. Gloria Giurgola spielt das nach Aufmerksamkeit gierende Promi-Sternchen mindestens so überzeugend wie den Wandel zur mitfühlenden Freundin an Mimìs Totenbett, wo sich auch der Kreis für Jenish Ysmanov schließt. Er ist ein eher in lyrischen Tenorgefilden beheimateter Rodolfo, der sich dennoch mit einem unbeschwerten „Che gelida manina“ glänzend einführt, an seiner Rolle wächst und gerade im Duett mit seiner Partnerin immer wieder neue gefühlvolle Nuancen entdeckt.
Schwerfallen dürfte dies nicht: In Sylwia Olszynska hat er eine Bilderbuch-Mimì, deren warm timbrierter Sopran mühelos über das Orchester schwebt, aber ebenso in den sanft zurückgenommenen Momenten nie an Farben verliert. Dirigent Lorenzo Coladonato hingegen scheint noch der Kraftakt des vorangegangenen „Don Carlo“ in den Knochen zu stecken. Den komödiantisch leichten Momenten vor der Pause fehlt es manchmal noch an Schwung und Spannkraft. Sobald die Story mit Mimìs fortschreitender Erkrankung ins Tragische kippt, ist aber auch der italienische Maestro wieder in seinem Element. Hand in Hand mit dem typgerecht besetzten Ensemble, das seine Arien und Duette jenseits aller Wunschkonzert-Seligkeit lebt, gelingt so etwas, das man als abgebrühter Operngänger schon nicht mehr für möglich hält: dass Puccinis beinahe totgespielter Schmachtfetzen auf einmal wieder richtig berührt.
Informationen
zum Immlinger Spielplan
und zum Vorverkauf unter
www.gut-immling.de