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100 Prozent Impfquote und Inzidenz über 1.500: Das große Rätsel um Gibraltar

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Von: Markus Zwigl

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Das britische Überseegebiet hat eine der höchsten 7-Tage-Inzidenzen in Europa.
Das britische Überseegebiet hat eine der höchsten 7-Tage-Inzidenzen in Europa. © pixabay

Das Rätsel von Gibraltar. Speziell die Blicke der Impfskeptiker richten sich derzeit wieder gerne nach Gibraltar. Das kleine britische Territorium an der Südspitze Spaniens hat Angaben zufolge eine Impfquote von 100 Prozent und dennoch gehen die Infektionszahlen derzeit durch die Decke. Täglich über 50 Neuinfektionen und eine 7-Tage-Inzidenz von über 1500.

Gibraltar - Täglich werden laut der englischen Zeitung Standard durchschnittlich 66 neue Infektionen in Gibraltar gemeldet, was 52 Prozent des Höchststands im Januar entspricht. Am 19. November 2021 meldete Gibraltar mehr als 1.554 neue Coronainfektionen je 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen. Damit verzeichnete das britische Überseegebiet eine der höchsten 7-Tage-Inzidenzen in Europa. Und das obwohl das 34.000 einwohnerstarke Land seit Monaten schon eine Impfquote von 100 Prozent meldet. Da kommen Impfverweigerer und Kritiker schnell zu dem Entschluss, dass die Impfungen gegen Covid-19 nichts taugen.

Aufgrund der Transparenz in diesen Tagen und der Tatsache, dass noch nie zuvor zu einer Krankheit so schnell so viele Daten zur Verfügung standen wie zu Covid-19, werden Zahlen verglichen und mit denen aus Deutschland in Kontext gesetzt. Um diesen Vergleich wurde sich zum Beispiel auch bei einem weit verbreiteten Facebook-Post bemüht. Demnach sei in beiden Ländern - also Gibraltar und Deutschland - die „Infektionsdynamik identisch“ und das obwohl in Gibraltar „lückenlos“ geimpft worden sei, heißt es. Der Autor sieht darin einen „Weltbild-Crash für jeden gläubigen Impfzwang-Fürsprecher“. Diese Zahlen seien Beweis genug, dass die Impfung nichts helfe.

Wie kommt eine solche Impfquote zustande?

Fakt ist, dass in Gibraltar laut World Health Organization (WHO) inzwischen über 39.815 Menschen vollständig geimpft wurden. Das sind mehr Menschen als nach Angaben des gibraltarischen Statistikamts (Statistics Office) überhaupt dort leben. Gemessen an der Gesamtbevölkerung von rund 34.000 Menschen ergibt sich eine rechnerische Impfquote von etwa 117 Prozent, die auf den ersten Blick unmöglich erscheint. Doch die Erklärung ist einfach.

Unter den Geimpften in der Statistik tauchen nicht nur diejenigen auf, die auch in Gibraltar wohnen und dort ihre Staatsbürgerschaft besitzen. Pendler etwa, die im benachbarten Spanien gemeldet sind und sich in Gibraltar impfen lassen, werden von der Impfstatistik ebenfalls erfasst. Im Vergleich zu anderen Ländern wird in Gibraltar extrem viel gependelt: Die Regierung berichtet auf ihrer Webseite, dass mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung täglich die Grenze überqueren.

Die abenteuerlichen Impfzahlen spiegeln also keineswegs die Realität wieder. Aufgrund der Größe und Einwohnerzahl fallen hier Tausende Pendler stärker ins Gewicht als in Deutschland. Auch hierzulande sind Grenzgänger laut Coronavirus-Impfverordnung impfberechtigt. Nutzen sie das Angebot, tauchen sie in Deutschland in der Impfstatistik auf, ohne hier gemeldet zu sein. Die Impfquote wird in Deutschland dadurch jedoch erheblich weniger stark beeinflusst, da die Bevölkerungszahl mit rund 83,1 Millionen Menschen um ein Vielfaches höher liegt als in Gibraltar.

Die tatsächliche Impfquote innerhalb der gibraltarischen Bevölkerung liegt - anders als es die Statistik vermuten lässt - unter 100 Prozent. Schon alleine deshalb, weil Kinder unter zwölf Jahren derzeit nicht impfberechtigt sind. Erst im September kündigte die Regierung an, dass ein Impfprogramm für Zwölf- bis 15-Jährige startet. Jüngere sind weiterhin außen vor. Das rein zu der angeblichen hundertprozentigen Impfquote in Gibraltar.

„Infektionsdynamik identisch“ in Gibraltar und Deutschland?

Wäre aber immer noch nicht geklärt, ob die „Infektionsdynamik“ tatsächlich „identisch“ mit der in Deutschland ist. Tatsächlich steigen in beiden Ländern die Infektionszahlen rapide an: Die 7-Tage-Inzidenz lag in Deutschland am 18. November bei 336,9, wie das Robert Koch-Institut (RKI) meldete. In Gibraltar lag sie am 18. November gar bei 1379,7 pro 100 000 Einwohner, wie aus den Daten der Johns Hopkins Universität hervorgeht, die auf der Seite coronalevel.com visualisiert wurden. Die Aussage, das Infektionsgeschehen sei identisch, ist also nicht haltbar, wenngleich die Zahlen dafür sprechen würden, dass in Gibraltar die Lage deutlich schlechter sein müsste.

Aber: Trotz der deutlich höheren Inzidenz ist es in Gibraltar nach wie vor unwahrscheinlicher an Covid-19 zu versterben als in Deutschland. Um die Sterbewahrscheinlichkeit nach einer Infektion zu berechnen, müssen Todesfälle und gemeldete Infektionen in Relation gesetzt werden. Laut jüngster Zahlen liegt die Sterbewahrscheinlichkeit in Deutschland nach einer Infektion mit Covid-19 demnach bei 1,897 Prozent, in Gibraltar bei 1,458 Prozent.

Impfung wirkungslos?

Welche Auswirkungen der vermeintlich kleine Unterschied hat, verdeutlicht auch die nachfolgende hypothetische Annahme und die daran anknüpfende Berechnung: Wäre die Sterbewahrscheinlichkeit in Deutschland die gleiche wie in Gibraltar, wären bei gleichbleibenden Infektionszahlen hierzulande etwa 23.200 Menschen weniger gestorben, als es tatsächlich der Fall war.*

Die Zahlen belegen also nicht, dass die Impfung wirkungslos ist. Ganz im Gegenteil: Die Wahrscheinlichkeit, in Gibraltar an einer Corona-Infektion zu versterben ist deutlich geringer als in Deutschland. Die Annahme, dass in Gibraltar „lückenlos“ geimpft wurde lässt außer Acht, dass neben den wenigen Einwohnern des britischen Überseegebiets dort unter anderem auch etliche Pendler anderer Staatsangehörigkeit geimpft wurden, die die Impfquote sogar weit über die 100-Prozent-Marke hinaus verzerren.

Die Regierung in Gibraltar hat laut Medienberichten nach den starken Anstiegen der Corona-Zahlen trotzdem die offiziellen Weihnachtsfeiern und alle damit verbundenen Veranstaltungen abgesagt. Die Behörden erklärten zwar, die Bürgerinnen und Bürger sollten „nach eigenem Ermessen“ entscheiden, ob sie sich mit der Familie oder Freunden treffen möchten. Es wird offiziell aber davon abgeraten, in den nächsten vier Wochen gesellschaftliche Veranstaltungen abzuhalten.

Des Weiteren haben die Impfungen gegen Corona eine hohe Wirksamkeit. Sie schützen sehr gut vor schwerem Krankheitsverlauf, Krankenhauseinweisung und Tod.

So schreibt das Robert Koch-Institut (RKI) in seinem Wochenbericht vom 11. November 2021 (Seite 23), dass grob geschätzt seit Anfang Februar der Schutz vor einer Infektion mit Symptomen durch die Impfung bei den 18- bis 59-Jährigen bei 82 Prozent und bei den Menschen ab 60 Jahren bei 80 Prozent lag. Der Schutz vor einer Hospitalisierung: bei rund 88 Prozent (18 bis 59 Jahre) sowie etwa 85 Prozent (ab 60 Jahren). Betrachtet man den Schutz der Impfung vor einer Behandlung auf Intensivstation, kommt man laut RKI auf etwa 93 Prozent bei den 18- bis 59-Jährigen sowie rund 90 Prozent bei den ab 60-Jährigen. Die Impfung schützt nicht zu 100 Prozent vor einer Ansteckung mit Sars-CoV-2, aber in den meisten Fällen vor schweren Verläufen.

*Um die Berechnung der relativen Verhältnisse transparent zu machen, sei an dieser Stelle der Rechenweg erläutert: In Deutschland gibt es rund 5,195 Millionen Corona-Fälle, die dem RKI gemeldet wurden. 98.538 Menschen sind laut gleicher Quelle verstorben. Daraus ergibt sich: 98.538 Todesfälle / 5 195 321 Infektionen -> 1,897% Sterbewahrscheinlichkeit nach Infektion. Laut Public Health Department Gibraltar gibt es dort 6721 erfasste Corona-Fälle und 98 Todesfälle. Daraus ergibt sich: 98 Todesfälle / 6721 Infektionen -> 1,458% Sterbewahrscheinlichkeit nach Infektion.

mz mit Material der dpa

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