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„Vermitteln, was Menschlichkeit ist“: Charlotte Knobloch im OVB-Exklusiv-Interview

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Von: Heike Duczek

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Versöhnende und mahnende Worte fand Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, im OVB-Exklusivinterview in den Räumlichkeiten der Wasserburger Volkshochschule.
Versöhnende und mahnende Worte fand Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, im OVB-Exklusivinterview in den Räumlichkeiten der Wasserburger Volkshochschule. © Rieger

„Erschütternd, was Menschen Menschen antun können“, sagt Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Im Exklusiv-Interview mit der Wasserburger Zeitung warnt die 90-Jährige vor neuen „Menschenfängern“ und macht sich stark für die Versöhnung.

Wasserburg - 90 Jahre alt und noch immer unermüdlich unterwegs als Kämpferin gegen den Antisemitismus: Charlotte Knobloch hat bei ihrem Besuch in Wasserburg, wo sie den Schlusspunkt unter eine Veranstaltungsreihe der Volkshochschule (VHS) zum Thema jüdische Kultur in Deutschland setzte, großen Eindruck hinterlassen.

Vor dem Gespräch mit gut 60 Bürgerinnen und Bürgern nahm sie sich Zeit für ein Interview mit der Wasserburger Zeitung. Eine charmante und freundliche Gesprächspartnerin, die als eine der letzten Holocaust-Überlebenden in einem öffentlichen Amt auch im hohen Alter mit großer Leidenschaft für die Versöhnung von Juden und Nicht-Juden eintritt.

Die VHS Wasserburg widmete im vergangenen Jahr in ihrem Programm ein ganzes Themenfeld dem jüdischen Leben in Deutschland. Warum wissen wir auch heute noch so wenig darüber?

Charlotte Knobloch: Man hat ja lange Zeit kein Interesse gehabt, über jüdisches Leben Bescheid zu wissen. Denn es gab Jahrzehnte, in denen die Menschen noch nicht vereint waren. Es gab die Opfer- und die Tätergruppen. Es sind nur die notwendigsten Dinge besprochen worden. Das Ausland hat nicht verstanden, dass jüdische Menschen überhaupt im Land der Täter leben konnten. Die meisten jüdischen Menschen, die in Deutschland nach dem Krieg lebten, waren außerdem nur hier, um auszuwandern. Gegenseitiges Kennenlernen war nicht erwünscht - von beiden Seiten. Man wusste nicht, was wird aus Deutschland, wie wird die Zukunft. Mein Vater war einer der ersten, der eine jüdische Gemeinde wieder gegründet hat. Das war 1946. Da befand sich jüdisches Leben in Deutschland eigentlich in der Auflösung. Natürlich hat es Jahrzehnte gebraucht, bis man sich wieder für den anderen interessiert hat. Eine große Rolle hat der amerikanische Film „Die Shoah“ gespielt. Danach ist auf beiden Seiten langsam aus dem Gegeneinander ein Miteinander geworden. Als der Film herauskam, war jedoch schon eine andere Generation da. Vorher hatten noch immer oft die Täter im Vordergrund gestanden, lange Zeit nach 1945 waren sie im Nachkriegsdeutschland noch sehr sichtbar. Ende der 70iger/80iger Jahre änderte sich dies. Fest steht: Das Interesse aneinander musste erst wachsen. Es ist übrigens so gewachsen, dass es heutzutage Menschen gibt, die hier nicht geboren wurden und hier nicht leben und die Deutschland trotzdem als ihre Heimat ansehen.

Der Eintrag von Charlotte Knobloch in das Goldene Buch der Stadt Wasserburg.
Der Eintrag von Charlotte Knobloch in das Goldene Buch der Stadt Wasserburg.  © Rieger

Sie kämpfen seit Jahrzehnten gegen Antisemitismus. Doch es kommt noch immer regelmäßig zu Vorfällen - auch bei uns, ein Beispiel: die Schmierereien an der KZ-Gedenkstätte in Mühldorf. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Knobloch: Antisemitismus wurde nicht in Deutschland erfunden, es gibt ihn in jedem Land, sogar in Ländern, wo keine Juden leben. Damit muss man sich abfinden. Es wird immer einige Irrgeleitete geben, die sich so wie in Mühldorf für solche Dinge wie Schmierereien begeistern. Aber auf die sollten wir jedoch nicht so viel Aufmerksamkeit legen. Natürlich sollten wir diese Vorfälle nicht auf die leichte Schulter nehmen, auf keinen Fall, doch die Gefährlichsten sind diejenigen, die Antisemitismus schüren, sich aber nicht erkennbar machen.

Welche Rolle spielt dabei heute das Internet?

Knobloch: Es ist ein Nährboden. Ich hätte nie gedacht, dass es eine Regierung, wo auch immer sie ist auf der ganzen Welt, es zulässt, dass solche Hetze und Propaganda gegen jüdisches Leben im Netz verbreitet werden kann. Hier können sich Menschenfänger anonym ausleben. Alt, Jung, Mittel-Age: Alles tummelt sich dort, man kriegt es nicht in den Griff. Das ist meines Erachtens die Hauptursache dafür, dass der Antisemitismus wieder wächst. Nachdem er in der Zeit von den 60iger- bis 80iger Jahren zurückgegangen war, wird er jetzt über das Internet wieder geschürt. Ein Problem ist bei uns, dass wir zu lange nachdenken, zu lange meinen: ach, das geht schon wieder vorbei. Wir warten zu lange, bis wir Gegenmaßnahmen ergreifen, dann ist es oft schon zu spät. Wir müssen sehr darauf achten, dass wir unsere Jugend auf unsere Seite bekommen. Schon im Kindergarten sollten wir Themen wie die Menschlichkeit besprechen. Wir sollten Kindern auch beibringen, ihr eigenes Land zu lieben, sie dazu bewegen, ruhig mit der deutschen Fahne herumzulaufen. Wir können doch nicht von jungen Leuten verlangen, dass sie selbst nicht schätzen, was sie auf andere übertragen wollen. Nur wer sein Land liebt, weiß, was er schützen sollte. Wichtig ist die politische Bildung, sie ist bei uns leider in allen Erziehungsbereichen noch immer sehr mager. Ich meine damit nicht unbedingt das Thema Holocaust oder Antisemitismus, sondern eher, unseren jungen Leuten zu vermitteln, was Menschlichkeit ist. Wichtig ist, den Zeitzeugen, die es noch gibt, die Möglichkeit zu geben, zu sprechen - damit junge Menschen den Stab der Erinnerung fest in der Hand halten und die Themen, die immer wieder hochkommen, bekämpfen werden.

Wasserburg ist derzeit dabei, die nationalsozialistische Vergangenheit der Stadt intensiv aufzuarbeiten. Ein Problem: vernichtete Akten, Lücken in den Unterlagen. Und die Meinung mancher, es sei jetzt auch mal gut gewesen, das Kapitel gehöre zugeschlagen. Was sagen Sie diesen Kritikern der Erinnerungsarbeit? 

Knobloch: Diese Schlussstrich-Debatte, die gibt es ja schon seit den 50er Jahren. Das wurde damals vor allem von Leuten vorgetragen, in deren Familie Menschen lebten, die den Nationalsozialisten ihre Hände gereicht hatten - in welcher Form auch immer. Diese Leute hatten natürlich sehr großes Interesse, dass die Öffentlichkeit mit dem Thema nicht belastet wird. Auch das Argument „Jetzt muss es mal gut sein“ kenne ich nur zur Genüge. Wir sind alle für das Gutsein, doch ich kann dazu nur sagen: Es ist und bleibt erschütternd, was Menschen Menschen antun. Was haben wir denn verbrochen? Was hat meine Großmutter verbrochen, die im KZ in Theresienstadt verhungert ist? Sie hat ihr Deutschland geliebt, sie war Wagnerianerin in Bayreuth. Was hat sie getan, dass sie furchtbar elendig sterben musste? Ich sage immer: Hitler ist nicht vom Himmel gefallen, Hitler ist gewählt worden. Wir müssen heutzutage sehr aufpassen, dass wir nicht Parteien wählen lassen, die die gleiche Richtung beschreiten. Es sind negative Menschenfänger unterwegs. Wir sollten in der Lage sein, sie zurückzuweisen. Dabei kommt es eben auf die Menschen an.

In Rosenheim haben sich Stadt und Stadtrat gegen die Stolpersteine zur Erinnerung an jüdische Familien, die vertrieben und ermordet wurden, entschieden. Stattdessen gibt es ein Gedenkzeichen. Ist diese Art der Erinnerungskultur auch für Sie der richtige Weg?

Charmante Kämpferin für das Judentum in Deutschland: Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern im OVB-Interview.
Charmante Kämpferin für das Judentum in Deutschland: Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, im OVB-Interview.  © Rieger

Knobloch: Ich bin kein Freund von Stolpersteinen. Lassen Sie mich es erklären. Ich habe als Kind zusehen müssen, wie ein Bekannter meines Vaters, den ich Onkel nannte, in einen Polizeiwagen, von der Gestapo ausgestattet, hineingestoßen wurde. Es war ein alter Mann, der mit Fußtritten in den Wagen hineinbefördert wurde. Ich möchte nicht, dass ein zweites Mal jüdische Menschen mit Füßen getreten werden. Deshalb kann ich persönlich Stolpersteine nicht akzeptieren. München ist zu meiner Freude, ohne dass ich einen Antrag gestellt habe, den Weg gegangen, auf Stolpersteine zu verzichten. Stattdessen gibt es Stelen, das ist ein anderer Aufwand, doch sie kommen gut an.

Der Rosenheimer Weg sieht eine Möbiusschleife vor, anzubringen an Häusern und Bäumen - mit Erklärungen.

Knobloch: Mit Erklärungen, das ist wichtig. Ich sage immer: Gedenken kannst du nur auf Augenhöhe.

Sie sind kürzlich 90 Jahre alt geworden und noch immer unermüdlich unterwegs, um an den Holocaust zu erinnern, zu mahnen, aus der Geschichte Lehren zu ziehen, und zu versöhnen. Woraus schöpfen Sie die Kraft für dieses Engagement? 

Knobloch: Das ist die Freude an dem Thema, die Freude darüber, dass ich mitwirken konnte, ein jüdisches Leben in Deutschland wieder aufzubauen. Die Freude darüber, dass es ein neues Miteinander gibt. Ich habe große Freude daran, dass das Interesse an unserer Kultur wieder da ist. So lange es geht, mache ich es. Wenn es nicht mehr geht, gibt es genügend Leute, die sich mit dem Thema befassen. Ich bin in vielen verschiedenen Gegenden unterwegs, auch dort, wo es gar keine Juden mehr gibt und, wo auch nicht darüber gesprochen wird. Wenn ich dort zu Gast bin, kommen oft Leute zu mir und sagen: „Endlich jemand zum Anfassen.“ Judentum zum Anfassen. Das finde ich schön.

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