Interview mit dem Leiter der Geburtshilfe
Nach Fund des Neugeborenen in Rosenheim: Was geht in der Mutter vor, Herr Goecke?
- VonAnna Heiseschließen
Der Fund eines Neugeborenen im Hinterhof eines Hotels hat für große Bestürzung gesorgt. Auch im Rosenheimer Klinikum. Jetzt spricht der Leiter der pränatalen Medizin und Geburtshilfe, Dr. Tamme Goecke, über solche Notsituationen und was dabei in Müttern vorgeht.
Rosenheim - Wie oft werden Babys ausgesetzt? In welchen Notlagen befinden sich die Mütter und welche Hilfen gibt es in der Stadt überhaupt? Antworten auf die drängendsten Fragen rund um den Fund des Neugeborenen, beantwortet Dr. med. Tamme Goecke, Leiter Pränatale Medizin und Geburtshilfe im Romed-Klinikum.
Was macht so ein Fall mit Ihnen?
Dr. Tamme Goecke: Das macht sehr viel mit einem. Das hat uns in der Klinik alle betroffen gemacht. Weil man natürlich erahnt, dass da eine immense persönliche Geschichte mit viel Verzweiflung dahinter stecken muss. Das hinterlässt Spuren und macht nachdenklich.
Fälle, wie der am Donnerstag, 9. März, sind in Rosenheim eher selten.
Goecke: Insgesamt muss man sagen, ist es ein sehr seltenes Ereignis. Im Moment laufen eine Vielzahl von Diskussionen darüber, ob es an jedem Krankenhaus eine Babyklappe geben soll. Da muss man sich natürlich die Frage stellen, ob das der richtige Ausgangspunkt ist.
Was ist Ihre Meinung?
Goecke: Ich finde es gut, wenn es eine Babyklappe gibt. Schon alleine, wenn nur ein Kind gerettet werden kann, hat sich jeder Aufwand gelohnt. Aber: Frauen, die ihre Kinder ablegen tun das aus einer Notlage heraus. Oft ist dann das nächste Krankenhaus mit einer Babyklappe zu weit oder auch noch zu öffentlich.
Um welche Notlagen geht es?
Goecke: Man muss zwischen den sozialen Notlagen, den Schwangeren mit psychischen Erkrankungen und den Schwangeren auf die von Dritten ein hoher Druck ausgeübt wird unterscheiden. In der Regel gibt es hier große Schnittmengen dieser einzelnen Gruppen.
Kann man diese Frauen erreichen?
Goecke: Das ist sehr schwierig, da sich die Schwangeren eben in einer Notlage befinden, die so schwierig sein kann, dass man Hilfe nicht annehmen kann oder nicht weiß wohin man sich wenden soll. Das Thema wird in der Gesellschaft tabuisiert. So ist es unser Ziel, möglichst niedrigschwellige Angebote auf unterschiedlichen Ebenen vorzuhalten. Die offene Aufklärung – und das möglichst in der Landessprache - mit Flyern oder über das Internet sind hier besonders wichtig und gibt es auch schon. Voraussetzung ist, dass die Schwangere die Hilfsangebote erkennt und ausreichend reflektieren kann, dass ihr ohne Nachteile für Sie oder Ihr Kind geholfen werden kann. Bei psychischen Erkrankungen oder bei Frauen, die unter Druck von Dritten stehen, ist das sicher oft sehr schwer.
In Rosenheim gibt zur Zeit keine Babyklappe, dafür die Möglichkeit zur vertraulichen Geburt. Das Problem: Viele Frauen wissen nicht, dass es ein solches Angebot überhaupt gibt.
Goecke: Das ist richtig, daher müssen wir so niedrigschwellig wie möglich diese Angebote schaffen. Diese Angebote fangen aber schon in der Schwangerschaft an. Bei vielen, besonders bei Menschen anderer Nationen ist nicht bekannt, dass man in Deutschland auf ein hervorragendes kostenfreies Schwangerenvorsorgesystem zurückgreifen kann. Dies gibt es in vielen anderen Ländern nicht. Hier müssen wir ansetzen, dass Frauen in Notlagen früh erkannt werden und dann der Weg zur Vorsorge geebnet wird. Die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen leisten hier wundervolle Arbeit.
Was sind die größten Gefahren für ein Neugeborenes, wenn es ausgesetzt wird?
Goecke: Unterkühlung und Unterernährung.
Und für die Mutter?
Goecke: In den meisten Fällen verläuft die unmittelbare Phase nach der Geburt und im Wochenbett unauffällig. Aber bei Geburtsverletzungen, nachgeburtlichen Blutungen oder Infektionen kann es schnell lebensgefährlich werden. Wenn man sich vorstellt, dass die Frauen schon zur Geburt keine medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, dann werden sie das auch in der nachgeburtlichen Phase nicht tun – zumal dann sehr schnell die Frage nach dem Kind auftaucht.
Woran liegt es, dass einige Frauen ihre Schwangerschaft verdrängen?
Goecke: Es gibt diejenigen, die ihre Schwangerschaft komplett verdrängen. Symptome, die sie haben, interpretieren sie als normal und nehmen hin, dass der Bauch ein bisschen dicker wird. In Rosenheim haben wir bei knapp 2000 Geburten und im Jahr zwei oder drei Frauen, die erst in der 30. Schwangerschaftswoche mitbekommen, dass sie schwanger sind. Bei diesen Verdrängungen ist die Psyche sehr stark. Ganz nach dem Motto: Was nicht sein darf, kann auch nicht sein.
Wie gelingt es, diese Frauen zu erreichen?
Goecke: Diese Frauen erreicht man leider nicht, weil sie überhaupt nicht realisieren, dass sie schwanger sind. Die Frauen, die man sicherlich besser erreichen kann, sind diejenigen, die es wissen und verheimlichen. Sie kaufen immer größere Kleidung oder wallende Gewänder, damit man den Bauch nicht sieht. Sie achten in der Regel wenig auf Schwangerschaftsbeschwerden wie Bauchziehen oder vorzeitige Wehen. Diese Frauen müssen wir alleine deshalb schon erreichen, weil die Gefahr der Frühgeburt besteht.
Wie gehen Sie hier vor?
Goecke: Über Aufklärung. Es geht um Patientinnen, die nicht so häufig zum Arzt gehen, weil sie Angst haben, dass die Schwangerschaft vom Arzt entdeckt wird. Ich glaube diese Frauen wird man nur über das Internet oder die Medien erreichen. Bei Frauen mit psychischen Erkrankungen, sollten Betreuer auf klinische Symptome achten.
Also kann es durchaus vorkommen, dass ein Umfeld von einer Schwangerschaft nichts mitbekommt?
Goecke: Ja. Die Frauen, die eine Schwangerschaft verheimlichen, werden diese auch, wenn sie darauf angesprochen werden, nicht zugeben und sich Ausreden ausdenken. Beziehungsweise sich ab einem bestimmten Zeitpunkt gar nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen, weil so ein Bauch dann doch nicht mehr zu verstecken ist.
Bei dem ausgesetzten Neugeborenen in Rosenheim ist immer nur von der Mutter der Rede. Sollte der Vater nicht mehr in die Pflicht genommen werden?
Goecke: Wenn man ihn denn findet. Natürlich gibt es zu diesem Kind einen Vater, aber weiß er von der Schwangerschaft? Vielmehr stellt sich mir die Frage, ob die Frauen wissen, dass es in Deutschland ein Vorsorgesystem gibt. Wenn die Frauen beispielsweise kein Deutsch sprechen, können sie nicht nach Hilfe fragen und lassen die Schwangerschaft vielleicht einfach so vor sich hinlaufen. Das führt dazu, dass sie, wenn das Kind da ist, überfordert sind. Hier sehe ich einen wichtigen Ansatzpunkt für mehr Unterstützung. Sie müssen wissen, dass sie ein Recht auf eine gute medizinische Versorgung haben.
Hört sich an, als ob deutsche Frauen ihr Neugeborenes nicht aussetzen würden.
Goecke: Nein, es trifft deutsche Frauen mindestens genauso. Nur kennen sie unser medizinisches System und wissen, dass sie zum Arzt gehen können. Aber: Wenn sie nicht versichert oder gemeldet sind, haben sie auch nicht sofort einen Ansprechpartner. Wenn man heutzutage versucht einen Termin beim Gynäkologen zu bekommen, ist das sehr schwierig. Wenn dann noch die sprachliche Barriere dazukommt, ist es umso schwieriger zeitnah einen Termin zu bekommen.