Berufung gefunden
Kuscheln in professionell: Die Rosenheimerin Christina Emmer bietet menschliche Nähe als Therapie
- VonJens Kirschnerschließen
Früher arbeitete Christina Emmer als Dozentin. Bei der Handwerkskammer München brachte sie ihren Kursteilnehmern unter anderem die Welt der Tabellenkalkulation näher. Inzwischen kuschelt die Rosenheimerin mit Fremden und hat dies zur ihrem Beruf gemacht. Bei all der Nähe gibt es aber dennoch Grenzen.
Rosenheim – Wer die Dienste von Christina Emmer in Anspruch nimmt, sucht Nähe und Berührung. Der Arbeitsplatz der 45-Jährigen: ein großes Boxspringbett, gespickt mit Kissen, darüber hängt ein Laken mit Mandala-Muster. Bei ihrem Beruf geht es zwar um Nähe, aber nicht um Intimität. Christina Emmer arbeitet als Kuscheltherapeutin.
Entspannung, keine Erregung
Das muss man voranstellen, denn der Dienstleistung, die Emmer anbietet, soll nichts Sexuelles anhaften, auch wenn sie und ihre Klienten sich sehr nahekommen. „Es geht um Entspannung, nicht um Erregung“, sagt die zweifache Mutter.
Ihr Weg zu ihrer heutigen Profession verlief, salopp gesagt, kurvenreich. Nach der Fachhochschulreife machte Emmer eine Ausbildung zur Bürokauffrau.
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Aber: Nicht ihre Welt, wie sie für sich herausfand. Was ihr jedoch lag: Tabellenkalkulation. Deswegen heuerte sie bei der Handwerkskammer München als Dozentin an, machte später noch eine Coaching-Ausbildung und arbeitete schon damals freiberuflich, wenngleich in anderer Mission.
Lernen, Menschen richtig zu berühren
Sie beriet Menschen, wie sie am besten zu sich selbst finden, gab Freiberuflern Tipps, damit sie im Netz mit ihren Diensten besser auffallen und half Personen dabei, Ordnung in ihren Alltag zu bringen. Jetzt kuschelt sie für Geld. Eine Profession, für die sie Anfang des Jahres eine Ausbildung gemacht hat. Dort habe sie gelernt, wie man Menschen richtig berührt und welche Regeln es einzuhalten gilt.
Man mag das befremdlich finden, aber Christina Emmer scheint mit diesem Job ihre Berufung gefunden zu haben. Sie sei ein körperlicher und sinnlicher Mensch. Und nicht jedem sei ein Partner, eine Familie, ein Freundeskreis vergönnt, mit dem man auch körperlich in Kontakt kommt. Dann hilft Emmer weiter.
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Dabei war die Aufnahme ihrer neuen Berufung coronabedingt durchaus schwierig: „Am Anfang konnte ich gar nichts machen“, berichtet sie über ihre Erfahrungen aus dem Lockdown Anfang des Jahres. Das sehe inzwischen anders aus. Derzeit gelten für sie die Regeln für körpernahe Dienstleistungen. Auch ohne Lockdown rennen Emmer die Klienten noch nicht die Bude ein. Ein bis zwei Termine seien es derzeit pro Woche. Leben allein vom Kuscheln – das kann sie derzeit noch nicht.
Keine Therapie im medizinischen Sinn
Wohlgemerkt: Beim Angebot Christina Emmers handelt es sich nicht um eine Therapie im medizinischen Sinn, wie Dr. Ulrich Voderholzer erklärt. „Vielmehr geht es um Grundbedürfnisse, die jeder Mensch hat, deren Erfüllung je nach Lebenssituation und persönlichen Möglichkeiten aber schwierig sein kann.“
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„Das Angebot der „Kuschel-Therapeutin“ zielt daher auf den Mangel an Befriedigung wichtiger Bedürfnisse ab. Zu diesen gehören sicherlich Nähe und Geborgenheit, Schutz und das Gefühl, angenommen zu werden“, sagt der Ärztliche Direktor der Schön Klinik Roseneck und habilitierte Psychiater. Im Einzelfall könne dies einen günstigen Einfluss auf seelische Probleme haben, aber: „Es ist keine wissenschaftlich anerkannte Therapie.“
Positiver Einfluss auf die Stimmung
Körperliche Berührung, sofern sie gewünscht ist, habe einen positiven Einfluss auf die Stimmung des Menschen. „Die Nähe eines anderen Menschen wird durch seine Berührung stärker wahrgenommen, als wenn man ihn nur sieht oder hört“, erklärt der Mediziner. Das hänge damit zusammen, dass die Informationen des Tastsinns für den Menschen wichtiger sind, als Sinneseindrücke von Ohren oder Augen.
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In der Psychotherapie könnten gezielte körperbezogene Interventionen beispielsweise Emotionen schneller zutage förderten, als es allein durch Gespräche möglich wäre. „Berührungen können wie eine ‚Abkürzung‘ zu unserem Herzen wirken.“ Dabei müsse sich ein Therapeut professionell verhalten. Kuscheln mit einem Patienten wäre im Rahmen der Psychotherapie eine Grenzüberschreitung.
Geduscht und in frischer Kleidung
Kuscheln, das definiert Christina Emmer als „jede Art der absichtslosen Berührung“. Wobei es schon eine Absicht gibt, der Klient soll schließlich entspannen. Aber die Grenzen bei so viel Nähe sind deutlich: Beim Kuscheln spielt sich alles oberhalb der Bekleidung ab, der Intimbereich ist genauso tabu wie die Lippen. Um dies abzusichern, unterzeichnen Emmer und ihre Klienten eine Kuschelvereinbarung.
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Darin sind nicht nur die Grenzen geregelt, sondern ebenso andere Grundregeln. Wer mit Christine Emmer kuscheln will, muss gepflegt sein, also geduscht und in frischer Kleidung zum Termin erscheinen.
Denn besonders wählerisch darf die 45-Jährige bei der Auswahl ihrer Klienten nicht sein. „Wir kuscheln mit jedem“, sagt sie über eine Regel ihrer Zunft. In einem Vorgespräch klärt Emmer über diese Regeln auf. Zumindest beim Ersttermin können es sich ihre Klienten anschließend noch anders überlegen, ohne zahlen zu müssen.
Jüngster Klient ist 19
Die Meisten, die zu ihr kommen, berichtet Christina Emmer, seien Single und einsam. Eine grobe Definition, wie sie sagt. Manche seien aus gerade erst aus einer längeren Beziehung gekommen und vermissten eine gewisse Körperlichkeit. „Sie spüren, dass ihnen was fehlt.“ 90 Prozent ihrer Klienten seien männlich. „Es gibt auch männliche Kuschler. Ich vermute, dass sich das bei diesen umgekehrt verhält.“ Mit Blick auf das Alter ergebe sich ein gemischtes Bild. „Das Gefühl der Einsamkeit gibt es in allen Altersgruppen“, meint sie. Ihr jüngster Klient ist 19.