Erzieher fordern echte Wahlfreiheit für Familien
Kita-Leiterinnen schlagen Alarm: „Vielen Kindern im Mangfalltal fehlt die Alltagskompetenz“
- VonKathrin Gerlachschließen
„Viele Kinder sind noch nicht reif für eine Kindereinrichtung“, schlagen Kita-Leiterinnen aus dem Mangfalltal Alarm. Für sie ist der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem ersten Lebensjahr das falsche Signal. Sie fordern, das Basiselterngeld länger zu zahlen, damit Familien mehr Zeit für den Start ins Leben haben.
Mangfalltal – Haben sich die Kinder verändert? „Sie können nicht mehr analog spielen. Sie wundern sich, wenn ein Puzzle-Teil nicht von allein an den richtigen Platz rutscht, wenn sie es antippen“, beschreibt Christine Egert aus Bad Aibling. Mit drei Jahren können viele noch nicht sprechen, müssen gewickelt werden, stehen aber beim Zwergerlkurs schon auf den Brettern.
„Da läuft etwas schief“, mahnen die Leiterinnen von neun Kindereinrichtungen aus dem Mangfalltal an. „Für den Großteil der dreijährigen Kindergarten-Kinder bräuchten wir eigentlich einen Krippenschlüssel, also eine engmaschigere Betreuung als eigentlich vorgesehen“, sagt Barbara Reiser aus Beyharting. In Bayern kommen nach dem „Personalschlüssel“ in Krippengruppen durchschnittlich 3,7 Kinder auf eine Fachkraft, in Kindergartengruppen sind es 8,3 Kinder. „Das entspricht aber nicht mehr dem tatsächlichen Bild der Kinder“, weiß auch Natascha Wittling aus Bad Aibling.
Haben Eltern das Urvertrauen in sich selbst verloren?
Doch woran liegt das? „Ich glaube, dass viele Eltern ihr Urvertrauen in sich selbst verloren haben“, meint Andrea Steiner aus Vagen. Der Anspruch auf Perfektionismus und der Wunsch, sein Kind für ein gut situiertes Leben unbedingt aufs Gymnasium und zum Studium schicken zu wollen, erzeuge enormen Druck und verunsichere gleichzeitig: „Sie haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie die Kinder zu früh in die Kita schicken, und sie sich eigentlich noch gar nicht lösen wollen. Gleichzeitig befürchten sie aber, dass die Kinder etwas verpassen und in einer Kita vielleicht besser gefördert werden könnten als bei ihnen zu Hause.“
Die Folge seien aber keine kleinen Genies, sondern überbehütete Kinder. „Das Kind bekommt von den Eltern die volle emotionale, materielle und finanzielle Aufmerksamkeit“, beschreibt Barbara Reiser. Vielen Eltern falle das Loslassen enorm schwer. Ein Beispiel aus der Praxis: Bei einer Wanderung, so berichtet eine der Kita-Leiterinnen, sei eine Mutter der Gruppe mit dem Auto hinterhergefahren – für den Fall, dass es ihre Tochter nicht auf eigenen Beinen bis zum Ziel schaffe. Oder aber, und auch das bestätigten alle Kita-Leiterinnen: „Die Eltern müssen tagsüber in die Kita gerufen werden, weil ihre Kinder sich nur von ihnen wickeln lassen wollen.“
Mehr „Wochenarbeitszeit“ als ein Erwachsener
Hinzu komme ein extremes Überangebot: „Immer mehr Kinder besuchen die Kita und sind danach noch zusätzlich in der musischen Förderung oder in einem Sportverein und so mindestes 45 Stunden in der Woche auf Achse. So viel Wochenarbeitszeit hat kaum ein Erwachsener“, beschreibt Andrea Marschner aus Bad Aibling und wünschte sich, „dass man ihnen die Kindheit nicht raubt, sondern ein Kind einfach Kind sein lässt“.
Auch Regeln gehören zur Erziehung
Im Gegensatz dazu beobachten die Pädagoginnen aber fehlende Alltagskompetenzen – ganz abgesehen vom Toilettengang oder dem Abräumen des Tisches. „Die Kinder müssen lernen, zu kommunizieren. Sie sollten sich selbst wahrnehmen, aber auch anderen anderen gegenüber achtsam sein, um zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen und mit anderen in der Gemeinschaft spielen zu können. Sie müssen auch mit Emotionen und Stress selbstständig umgehen, Entscheidungen treffen und Probleme lösen können. Und sie müssen lernen, dass es bei aller Freiheit auch Regeln gibt, an denen man sich in einer Gemeinschaft orientieren muss“ , beschreibt Barbara Reiser Defizite, die bis zum Schuleintritt ausgeglichen werden müssen.
Die Eltern, da sind sich die Kita-Leiterinnen einig, sollten in der Erziehung ihrer Kindern wieder stärker darauf achten, diese Alltagskompetenzen zu fördern. „Dann würde in den Kitas auch wieder mehr Zeit für die eigentliche Bildungsarbeit bleiben“, macht Reiser deutlich.
Gleichzeitig stehen aber auch die Eltern unter einer enormen Belastung: „Die Mieten in unserer Region sind so hoch, dass beide arbeiten müssen. Sie sind von der Arbeit erschöpft und haben oft keine Kraft mehr für die Kinder“, weiß Christine Egert aus Bad Aibling um das elterliche Dilemma. Oft seien es dann eben das iPad oder der Fernseher für die Kinder, die ihnen einen Moment der Ruhe ermöglichten.
Reizlevel ist ausgeschöpft
„Das Reiz- und Nervenlevel von Klein und Groß ist total überlastet“, schätzt Andrea Steiner ein. Doch wie kann Eltern und Kindern geholfen werden? „Ich habe vollstes Verständnis für die Doppelbelastung vieler Eltern“, betont Barbara Reiser. „Deshalb appelliere ich an den Staat, entweder die Rahmenbedingungen in den Kindereinrichtungen endlich anzupassen, um den Kindern eine schöne Kindergartenzeit zu ermöglichen oder die Eltern aus ihrer Doppelbelastung zu holen.“
„Wenn ich noch einmal Mama wäre, würde ich mir wünschen, mindestens zwei oder drei Jahre mit meinem Kind zu Hause bleiben zu dürfen“, sagt Dagmar Lenz aus Vagen. Sie ist sich sicher, dass der Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in einer Kindertageseinrichtung ein völlig falsches Signal ausgesendet habe, denn: „Er vermittelt das Gefühl, dass ein Kind ab dem ersten Lebensjahr in die Kita muss, und nur das der richtige Weg ist.“
Mehr staatliche Förderung nötig
Andrea Steiner ermutigt die Eltern, wieder stärker auf ihren Bauch zu hören und sich selbst zu vertrauen: „Familie oder Kita – eines ist so gut wie das andere. Was wann richtig ist, hängt von der individuellen Entwicklung des Kindes ab.“ Dass dafür mehr staatliche Förderung nötig ist als bisher, ist den Pädagoginnen aus dem Mangfalltal klar. Deshalb fordern sie: „Eltern brauchen eine echte Wahlfreiheit. Es reicht nicht, die Kita-Plätze finanziell zu stützen und die Familien so bei den Elternbeiträgen zu entlasten. Man muss ihnen alternativ auch ermöglichen, mit dem Basiselterngeld drei Jahre zu Hause bleiben zu können, wenn das für die familiären Bindungen und die Entwicklung des Kindes besser ist.“