Junge Kritiker „auf dünnem Eis“
Bad Aibling – Das genaue Hinsehen und Hinhören ist die halbe Miete – so lautete die Hauptbotschaft der Nonfiktionale-Leiterin Tamara Danicic an die Teilnehmenden des Filmkritik-Workshops des Gymnasiums Bad Aibling.
Denn um einen Film beurteilen, einordnen und bewerten zu können, braucht es nicht nur eine solide Argumentationslinie, sondern vor allem auch geschärfte Sinne.
Nach drei Jahren Pandemiepause konnte nun endlich auch diese schöne Tradition des Aiblinger Filmfestivals wieder aufleben. 18 Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse wurden in einer kleinen „Sehschule“ auf doppelt ungewohntes Terrain geführt: Dokumentarfilm und Filmkritik. Anhand einer filmischen Kostprobe aus dem Nonfiktionale-Archiv durften sie sich zunächst, angeleitet von Tamara Danicic, am Verfassen eines Filmkritikanfangs versuchen. Auf diese Fingerübung folgte dann die eigentliche Herausforderung: je eine Filmkritik über die aktuellen Filme im Nonfiktionale-Programm zu schreiben.
Die Ergebnisse können sich durchaus sehen – und lesen – lassen. Alle Texte sind während der Nonfiktionale im Festivalzentrum (im Kinofoyer des Aibvision Filmtheater) zu finden – und eine Auswahl der Filmkritiken veröffentlichen wir parallel zu den Spieldaten der jeweiligen Filme hier.
„Ours“
(Regie: Frund)
„Aber ist ja auch nicht tragisch. Die hockt nur da mit ihrem Orangensaft und spricht mit jemandem.“ Zwischen den Aufnahmen von wilden Bären, welche Urs Amrein über Jahrzehnte aufgenommen hat, findet die junge Filmstudentin Morgane Frund Aufnahmen von jungen Frauen, die in der Öffentlichkeit heimlich gefilmt wurden. In ihrem Dokumentarfilm „Ours“, was auf Französisch „Bären“ heißt, spricht Morgane über ihre Erfahrungen mit Urs und erlebt die Welt wortwörtlich durch seine Augen. Zu Beginn des 19-minütigen Kurzfilms sieht man unterschiedliche Aufnahmen von Bären und geht davon aus, dass es sich um eine übliche Tierdokumentation handelt. Im Hintergrund hört man entspannte Jazzmusik spielen. In der dritten Minute des Films wechseln die Tierszenen zu der Aufnahme eines Studios. Hier sitzt die Filmstudentin Morgane selbst und schneidet Teile des Filmes. Während ihrer Arbeit an den Aufnahmen entdeckt sie auch Videos von Frauen. Urs hat sie heimlich gefilmt. Das gibt er auch zu, als Morgane ihn darauf anspricht. Sie ist bestürzt und möchte am liebsten alles abbrechen. Was zu Beginn nur ein Dokumentarfilm über Bären sein sollte, entwickelt sich zu einer lebhaften Diskussion zwischen Morgane Frund und Urs Amrein, ob die Schönheit der Frau sie zu einem Objekt macht. In dem Kurzfilm wird man durch viele Fragen zum Nachdenken angeregt. Viele davon bleiben auch offen. Mich hat der Film gleichzeitig auch überrascht, da der Titel eher auf das Thema Bären hinweist, welches dann aber schlagartig abgebrochen wurde. Was mir auch aufgefallen ist, ist das der Name „Urs“ aus dem Lateinischen kommt und auch Bär bedeutet. Der Bär kann in diesem Fall für das männliche, angeblich stärkere Geschlecht stehen und den Filmer selbst. Der Film bietet in der heutigen Zeit, auch vor dem Hintergrund der Me-Too-Debatte, einen Gesprächsanlass. Deswegen empfehle ich den Film jedem weiter.
Johanna Berns
„I Am the Tigress“
Regie: Fussenegger/Osmanovic)
Muskulöse Mädchen. Dieses Bodyimage ist für viele befremdlich. Eine Frau soll klein und zierlich sein. So sieht das Image aus, was viele von Frauen erwarten oder haben möchten. In dem Dokumentarfilm „I Am The Tigress“ begleiten wir Tischa Thomas auf ihrem Weg. Wir sehen Shows von Bodybuilderinnen, Personen, die offensichtlich ein Problem mit kräftigen Frauen haben, und Männer, die sich erotisch angezogen fühlen. Tischa kann ich nur sehr schlecht vom Alter her einschätzen, aber sie ist extrem selbstbewusst und bringt das auch gerne rüber. Aber wenn man so aus der Menge hervorsticht, bleibt einem vermutlich auch nichts anderes übrig. Die erste Szene ist erst mal verwirrend. Man sieht eine Handyaufnahme: Tischa tanzt langsam, mit den Händen voraus, ins Bild herein. Dann beginnt sie mit einer Message an den Zuschauer. Diese Handyaufnahmen werden immer wieder mal eingeblendet und man bekommt einen Appell mit auf den Weg. Auch schließt sie den Film mit einem solchen Tanz und einer Szene ab, die ihre starke Persönlichkeit nochmals ausdrückt. Den Rest des Dokumentarfilms sehen wir meist als dritte Person mit an. Wir laufen quasi hinterher oder sitzen im Publikum. Ich persönlich wurde von diesem Film emotional mitgerissen. Tischas Emotionen wurden offen gezeigt und man musste direkt mitfühlen. Dadurch wurde man auch mehr ins Geschehen mithineingeworfen und wollte unbedingt wissen, wie es weiter geht. Manche Szenen kamen etwas überraschend oder waren irgendwie überflüssig, aber im Großen und Ganzen war es ein sehr ausdrucksstarker und für die Gesellschaft wichtiger Film. Allein das diese Thematik so offen und tabulos in einem Film verpackt wurde, hat direkt mein Interesse geweckt, und ich empfehle jedem, sich diesen Film anzusehen.
Chiara Laböck