Wenn Alleinsein zur Qual wird

Wie viele Menschen im Alter tatsächlich einsam sind, ist ungewiss. Sicher ist aber: Wen es trifft, trifft es oft mit voller Wucht.
Mühldorf/Aschau - Das Schicksal, unter dem Irene Karstens so stark leidet, heißt Einsamkeit, Alleinsein. Sie spürt es, seit ihr Mann nach 15 Jahren Pflege starb. Seitdem? "Jetzt bin ich allein." Schmerzhaft bewusst wird das der 79-jährige Aschauerin besonders dann, wenn sie ausgeht, sich ins Restaurant oder Café setzt. "Es ist niemand da, der einen anspricht." Oder: "Es ist niemand da, der sich zu einem setzt." Man esse, man trinke, man zahle und gehe nach Hause. Das Wort Einsamkeit kommt Irene Karstens leicht über die Lippen, es beschreibt das Lebensgefühl, dass sie seit dem Tod ihres Mannes in sich trägt.
Wie viele alte Menschen das Lebensgefühl der Aschauerin teilen, ist nicht gesichert. Das Deusche Zentrum für Altersfragen geht davon aus, dass bis zu 70 Prozent der Senioren "gering einsam" sind, etwa sieben Prozent "hoch einsam". Dabei seien Frauen stärker betroffen als Männer, weil sie ihre Ehepartner häufiger überleben.
Michael Tress ist Altenseelsorger im Landkreis und weiß, dass man Menschen Einsamkeit nicht ansieht. "Das macht es so schwer, Einsamkeit zu erkennen. Vieles läuft im Verborgenen." Dabei geht er ähnlich wie die Studie des Deuschen Zentrums für Altersfragen davon aus, dass nur ein kleiner Teil sehr einsam ist. Die anderen haben nach seiner Einschätzung zumindest auf dem Land mit seinen relativ intakten sozialen Strukturen ausreichend Kontakte. Es ist nach seiner Erfahrung aber auch klar: "Die, die es trifft, leiden große Not."
Diese Not lässt sich nicht so einfach beseitigen, sagt Tress. Natürlich gingen einsame Menschen beispielsweise zum Einkaufen, die dabei entstehenden Begegnungen seien aber nur oberflächlich und nicht befriedigend.
Eine Erfahrung, die Karstens bestätigt. Sie hat viele Kontakte durch ihre Tätigkeit als Künstlerin, die Fatschenkinder restauriert oder herstellt, sie ist Mitglied im Sängerbund. Doch diese Kontakte reichen ihr nicht: "Ich brauche mehr", sagt sie, nach der Chorprobe geht sie nach Hause.
Altenseelsorger Tress weiß: "Leute vereinsamen, obwohl sie gut eingebunden sind." Seniorenclubs sind eine gute Anlaufstelle für viele, für andere aber ersetzen sie das vertraute und geliebte Umfeld nicht. Das existiert nicht mehr, neue, tragfähige Kontakte sind schwer zu knüpfen. "Viele sehen wenig Möglichkeiten, etwas für sich zu ändern." Die Ansprüche sind oft hoch, wie bei Irene Karstens, die alle Beziehungen, jedes Gespräch an ihren Erlebnissen mit ihrem Mann misst. Am Ende bleibt sie allein. Tress nennt das die "Dynamik der Einsamkeit", das Gegensteuern fällt schwer. "Einsame suchen etwas, das ihnen entspricht, wagen aber oft nicht den Schritt, auf andere zu."
Gleichzeitig bezweifelt er, dass die Gesellschaft das Phänomen wirklich wahrnimmt: "Wir brauchen da ein sehr waches Bewusstsein, es ist wichtig, den Blick auf die zu lenken, die einsam sind." Tress will das Thema deshalb mit seinem Seniorenreferenten besprechen, damit es stärker ins Bewusstsein kommt.
Das will auch Irene Karstens tun, sie will mit einem Zeichen den Blick auf sich ziehen. Ein Anstecker mit einem Vergissmeinnicht soll signalisieren: "Ich möchte angesprochen werden." Karstens Hoffnung ist es, dass sich der Anstecker durchsetzt und sich Menschen dadurch erkennen, "sie sozusagen einen Vergissmeinnicht-Club der Einsamen bilden".
Wer Interesse an den Vergissmeinnicht hat, kannt mit Irene Karstens Kontakt aufnehmen. Sie ist erreichbar unter 08638/8842966. hon